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Einsamkeit kann sehr radikal sein. Carl Spitzwegs Bild „Verdächtiger Rauch (Klausner schaut ins Land)“, 1860/62.

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Die Kunst der Einsiedlerei: Jenseits des Weltgetriebes

Was viele nun unfreiwillig erleben, ist für andere selbstgewählte Realität: das Eremitentum. Streifzug durch eine einsame Lebensform.

Die Eremiten sind fein raus. Sie suchen freiwillig die Einsamkeit, kehren der Welt den Rücken zu. Seit Jahrhunderten üben sie sich in dem Leben, das für viele Menschen in Berlin nun Wirklichkeit geworden ist. Sie wissen, wie es geht, sich in Demut und Geduld zu üben. „Getrennt von allen und doch vereint mit allen“.

Das ist ein Satz, den in Corona-Zeiten jede und jeder unterschreiben kann. Und doch steht er nicht für die gemischten Gefühle der Menschen, die sich in Etagenwohnungen oder Stadtrandreihenhäuser zurückgezogen haben. Es ist das aus dem vierten Jahrhundert überlieferte Credo des Eremiten Evagrios Pontikos.

Der 345 geborene Schriftsteller und Gelehrte lebte nahe der Eremitensiedlung Nitria südöstlich von Alexandria und gehörte zu den sogenannten Wüstenvätern und Wüstenmüttern.

So heißt die frühchristliche Bewegung von Asketen, die Armut, Keuschheit, Gebet, geistliche Selbsterforschung und theologisches Studium gegen weltliches Getriebe setzte und zum Vorläufer des Mönchstums, des christlichen Ordenslebens wurde. Der Kirchenlehrer Hieronymus, der erste Klostergründer Pachomius und Franz von Assisi, der Gründer des Bettelmönchordens – sie alle haben für viele Jahre die Einsamkeit der Gemeinschaft vorgezogen.

Eremos – das ist Griechisch und bedeutet einsamer Ort, Wüste. Eremiten sind Wüstenbewohner, wobei „Wüste“ schon im Mittelalter das Synonym für einen geistigen Zustand ist.

Über Jahrhunderte befeuertes Klischée

Frauen und Männer, die der Gesellschaft und ihren Regeln den Rücken kehren und in Waldhütten, Erdhöhlen, Berghütten, Strandbauden und sonstigen Klausen nach ihrer eigenen Façon selig werden, die gibt es so lange wie die Zivilisation: in jeder Kultur und Religion. Mal mit, mal ohne spirituellen Überbau, ob als Heilige verehrt oder als Sonderlinge verlacht.

Auch in spektakulärer, öffentlicher Form, wie die „Säulenheiligen“ der Spätantike. Ihr Popstar ist der 459 angeblich oben auf seiner 18 Meter hohen Säulenplattform verstorbene Syrer Simeon, ein berühmter Anachoret. Ihm eifert heute ein orthodoxer Mönch in Georgien nach, der auf einer vierzig Meter hohen Kalksteinfelsnadel – der Kazchi-Säule – lebt und von seinem Kloster per Seilzug versorgt wird.

Dieser Säulenheilige der Gegenwart und die alle paar Jahre durch Boulevard-Blätter geisternden Geschichten von obskuren Käuzen, die in niedersächsischen Wäldern oder in einer Erdhöhle bei Beelitz aufgestöbert werden, nähren ein über Jahrhunderte durch Literatur und Malerei befeuertes Eremitenklischée, das von der Einheit des Menschen und der Natur und einem reinen Leben jenseits zivilisatorischer Zwänge und Verderbtheiten erzählt.

Gott ist die Nummer eins. Die Osnabrücker Einsiedlerin Maria-Anna Leenen.
Gott ist die Nummer eins. Die Osnabrücker Einsiedlerin Maria-Anna Leenen.

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Eine romantische Vorstellung, die im Großbritannien des 18. und 19. Jahrhunderts sowie im Berlin der 2010er Jahre possierliche Blüten treibt. In England schmückten Adelige ihre Landschaftsparks mit „Ziereremiten“, wie Dichterin Edith Sitwell in dem Klassiker „Englische Exzentriker“ anschaulich-ironisch beschreibt.

In Berlin-Mitte wirkte Elektro-Musiker Friedrich Liechtenstein vor fünf Jahren in ebensolcher Funktion bei einer Brillenmanufaktur in Mitte. Ohne Handy und überflüssige Konsumgüter hockte Schmuck-Eremit Liechtenstein in einer zugigen Dachkammer auf seiner Pritsche und sprach sich für ein reduziertes Leben nach dem Motto „Weniger ist mehr“ aus. Sein anschließender Einsatz als Werbemaskottchen von Edeka hat sein Asketen-Standing dann aber schnell versaut.

Neueremitischen Bewegung in Deutschland

Ähnlich wie andere säkulare Einsiedler von heute, über die Ebba Hagenberg-Miliu in ihrem Buch „Allein ist auch genug. Wie moderne Eremiten leben“ schreibt, sind diese Aussteiger oft Menschen, die Lebenskrisen hinter sich gebracht und Ballast abgeworfen haben. Mit dem Eremitenleben geht häufig ein Bedürfnis zum Bekenntnis, zur Selbsterklärung einher. Wie vor 1700 Jahren melden sich auch heute Anhänger der eremitischen Lebensart gern in eigenen Schriften zu Wort.

Sie heißen „Seele sucht Ruhe: Gedanken aus der Einsiedelei“, die Benediktiner-Eremit Raimund von der Thannen veröffentlicht hat, der zwölf Jahre lang in der Einsiedelei Saalfelden lebte und mit seinem Ausscheiden 2016 einen wahren Bewerberansturm auf die 350 Jahre alte Bergklause auslöste.

Oder „Schäferkarren-Philosophie“, wie der direkt beim Klausner und Kunstmaler Hans Anthon Wagner zu bestellende Lebensbericht. Wagner lebt seit Jahrzehnten in einem alten Schäferkarren auf der Schwäbischen Alb. Im ersten Leben war er Grafikdesigner, dann entschied er: „Ich bin mir selbst genug.“ Seither schaut er ohne metaphysischen Überbau in die Landschaft, freut sich des ruhigen Lebens und ist regelmäßiger Gegenstand von Medienporträts, die sein bescheidenes Leben bestaunen.

Mit dieser Neugier der Menschen, die in Sachen Komfort und Kommunikation in Europa einen Standard leben, der ihrer Spezies nie zuvor beschieden war und dessen Verlust sie fürchten, ist auch Maria Anna Leenen vertraut. Die Diözesaneremitin lebt im Norden des Erzbistums Osnabrück in einem Bauernhäuschen.

Die Klause St. Anna ist sechs Kilometer vom nächsten Dorf entfernt. Ihre mit Katzen und Ziegen geteilte Abgeschiedenheit hindert Leenen, die lieber Maria Anna heißt, nicht daran, zwei Webseiten zu betreiben und eine Schaltstelle der neueremitischen Bewegung in Deutschland zu sein.

Kirchlich anerkannte Eremitin

Einsamkeit ist radikal, aber wie es scheint auch relativ, was die eloquente Anna Maria am Telefon gerade rückt. Eremitin zu sein bedeute keine Isolation, sagt sie, sondern sich vom Weltlichen nach Möglichkeit zu trennen. „Partys, Grillfeten, Urlaub, Kino, Doppelkopf, Kaffeklatsch – alles gestrichen, aber natürlich habe ich Kontakt zu Menschen."

Ihre Aufgabe sei ja nicht nur, im Stillen zu beten, sondern auch Menschen zur Verfügung zu stehen, die Fragen, Probleme und Kummer hätten, Seelsorge also. „Die Tür der Einsiedelei steht immer offen. Wenn auch momentan nur mit zwei Meter Abstand“, sagt sie. „Hier stehen morgens manchmal Menschen vor der Tür und sind in Tränen aufgelöst.“

Maria Anna ist 63 und lebt seit 25 Jahren als kirchlich anerkannte Eremitin. Die Leute im Bistum kennen sie, ein Förderverein kümmert sich um die Erhaltung der Klause.

Ihren Lebensunterhalt verdient sie als Autorin von Büchern zu Eremitentum und Spiritualität und als Kerzenmacherin. Die Gelübde, die sie geleistet hat, gleichen denen einer Ordensfrau: Gehorsam, Keuschheit, Armut, Zurückgezogenheit und beständiges Gebet. Auch ihr Alltag orientiert sich am klösterlichen Zyklus der Stundengebete, der früh morgens beginnt. Mit dem Aussteigertum von Menschen, die der Leistungsgesellschaft überdrüssig sind, hat diese konzentrierte Kontemplation wenig zu tun.

Jawohl, Maria Annas Leben unterscheidet sich deutlich von dem der Wüstenväter, in deren Nachfolge sie sich sieht. Nur: „Ich lebe nicht in der Spätantike, sondern im 21. Jahrhundert.“

Sicher hätten die Wüstenmütter Sarrha und Synkletika keine Website betrieben, aber ihre Ausrichtung sei dieselbe. „Gott hat absolute Priorität. Und in jedem Menschen, ob er Gott kennt oder nicht, kommt mir dieser Christus entgegen.“ Daher gehörten weder Weltflucht noch Menschenverachtung zu den Tugenden einer Lebensweise, die nur was für psychisch und physisch robuste Leute sei. „Eremiten sollten die Welt als Geschenk Gottes lieben“, ist Anna Maria überzeugt.

Deswegen lebt sie in ihrer Klause einen Dreiklang: die Beziehung zu Gott, zu den Menschen und zur Schöpfung, den die norddeutsche Landschaft und die Ziegen symbolisieren.

Europäisches Eremitentreffen

Zu Gott und damit in die Zurückgezogenheit hat Maria Anna erst mit 33 gefunden, als sie nach einem Bekehrungserlebnis in Venezuela als Novizin in den Klarissen-Orden eintritt. Vorher arbeitet die Powerfrau als Sportlehrerin und Bewegungstherapeutin in ganz Deutschland, reist viel und geht schließlich mit einem Freund nach Südamerika.

Dass sie dann erst zum Glauben und schließlich in die Einsiedelei findet, ist für sie ein Ruf Gottes, den sie mit rund 80 Neu-Eremiten in Deutschland teilt.

Die meisten sind Frauen und leben auf dem Land, wo Ruhe und Abstand leichter zu finden sind. Aber Mannheim, Regensburg und sogar Berlin besitzen Stadteremitinnen. Und dass im Brandenburgischen Lindow auch einer wohnt, ist bekannt. Alle drei Jahren findet sogar ein europäisches Eremitentreffen statt.

Beim letzten haben sie ein Papier verabschiedet, das bald bei der Deutschen Bischofskonferenz abrufbar ist. Es soll die Bilder vom Männlein oder Weiblein in der Kutte, das am Waldesrand mit den Rehen spricht, geraderücken. „Wir wollen vernünftige Informationen zu den Menschen bringen, die sich für unsere Lebensweise interessieren“, sagt Maria Anna.

In die beständige Zwiesprache mit Gott schließt die Eremitin immer Fürbitten für alle Menschen ein. Natürlich auch jetzt. Die Krise verdeutliche, wie wenig man sich in einem Wohlstandsland über die Verletzlichkeit und Ausgesetztheit des Menschen klar sei. Dazu gehöre auch die Frage, was die Identität jedes einzelnen ausmache.

Glaubt man Maria Anna, birgt auch unfreiwillige Einsamkeit die Chance für einen Selbstbefragungsprozess. „Setzt euch hin, schaut zehn Minuten in den Spiegel, schreibt auf, was euch dabei aufgeht und setzt euch damit auseinander.“ Der vom Getöse alltäglicher Ablenkungen befreite Mensch, zurückgeworfen auf die nackte, imperfekte Existenz – das kann ein Anfang sein.

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