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Klangkunst. Éliane Radigue komponiert radikale Gegenwart.

© Eleonore Huisse

Die Komponistin Éliane Radigue bei Maerzmusik: Schwingungen ins Nirgendwo

Die französische Komponistin Éliane Radigue ist im Januar 90 geworden. Das Festival Maerzmusik widmet ihr in diesem Jahr einen Schwerpunkt.

Manche suchen ihr Glück in der größtmöglichen Weite. Man denke an die Postmoderne: Stilpluralismus, Collage, maximale Vielfalt – alles immer überall zugleich verfügbar. Und auch in der Gegenwart gilt: Wer beweisen will, dass man sich bei einem Thema auskennt, zählt einfach ein paar Beispiele auf. Éliane Radigue hat das nie interessiert. Statt sich als breit ausgebildete Komponistin zu beweisen, suchte sie ihr musikalisches Glück schon immer in der Tiefe. Der Tiefe eigentlich nur eines einzigen Aspekts der Musik: der Schwebung.

Beweise sind schließlich für Unwissende da – und Éliane Radigue wusste von Anfang an, was sie wollte. Mit ihrem Synthesizer machte sie sich in den sechziger Jahren unabhängig von männlichen Domänen, ließ auch ihre Lehrer Pierre Schaeffer und Pierre Henri hinter sich. Sie wurde Komponistin, Dirigentin und Interpretin in Personalunion. Beide nahmen ihr manches übel, was sie später musikalisch aus den Lehrstunden bei ihnen machte – sie findet bis heute nur Worte der Wertschätzung für ihre Mentoren.

Zur Welt kommt Éliane Radigue 1932 im Quartier des Halles, dem ehemaligen Marktviertel und „Bauch von Paris“, wie Émile Zola es nannte. Und wenn man den Bauch als Metapher für die Intuition gestattet, ist Radigue ihren Wurzeln immer treu geblieben, eine voraussetzungsfreie, intuitiv erfassbare Musik zu machen.

Wie in Zeitlupe hört man mit ihr die Teilschwingungen einzelner Klänge durch, kann sich bewusst machen, was ein Zusammenklang überhaupt ist. Sie habe schon immer die langsamen Sätze in klassischer Musik bevorzugt, sagt sie einmal einem Journalisten.

Der unendliche Raum zwischen zwei Klaviertasten

Tristan Akkord, jazziger Septakkord oder das komplexe Cluster aller Tasten des Klaviers zugleich: Harmonie und Dissonanz, die Klangfarbe und alles das, was emotional bewegt an einem Klang, ist im Wesentlichen das Spiel der mikroskopischen Auslöschungen und Verstärkungen in den Obertönen. Und genau da hinein, in diesen Limbus zwischen den Tönen, führt ihre Musik immer wieder. Als fröre man eine klassische Aufführung ein und hörte hinein in das, was noch passiert, wenn alle Instrumente einfach nur den Ton halten.

Bei Radigue erfährt jede Kompositionsweise etwas von Grundlagenarbeit, die sich dem unendlichen Raum zwischen zwei Klaviertasten widmet. Denn sie verwirft eine über Jahrhunderte entwickelte Organisation der Tonhöhen – und muss für sich eine neue erfinden. „There are no rules, everything is possible“, sagte James Tenney, Pionier der mikrotonalen Musik, einmal über seine Arbeit.

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Hatte Tenneys theoretischer Ansatz noch etwas von einer Verwaltung der Klänge, kommt Radigues Musik der Anarchie näher. Sie schreibt keine Partituren, berechnet keine Zahlenverhältnisse, sondern komponiert nach Gehör. Anders wäre es mit ihrer Ausrüstung gar nicht möglich. Denn auch, wenn es so aussehen mag, ist ihr Synthesizer, ein wandgroßer ARP 2500, alles andere als hochpräzises Laborequipment. Schon eine Änderung der Zimmertemperatur führt zur Verstimmung seiner Oszillatoren.

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Den Schaltkreisen wohnt das Chaos inne. Statt auch nur zu versuchen, das Gerät zu bändigen, beginnt Radigue ihre Laufbahn daher Ende der Sechzigerjahre sogleich mit einer Bewegung in die entgegengesetzte Richtung: Sie entdeckt die Rückkopplung als Prinzip der Selbstorganisation von Klängen und entfesselt damit die Technik. Dazu verschaltet sie ihren Synthesizer so, dass die Klänge, die er aussendet, wieder zurück ins System gespeist werden und Einstellungen verändern. Die Rückkopplungen, englisch Feedback, lassen die Schaltkreise so ein Eigenleben entwickeln.

Absage an das Komponisten-Ego

Zufällig pendelt sich das System mal auf einen stabilen Zustand ein, dann wird alles wieder instabil – und die Musik eine andere. Stücken aus ihrer Feedback-Phase, nachzuhören ausschließlich auf Radigues Bandcamp-Account, wohnt damit etwas Naturästhetisches inne: Sie enthalten keine Botschaften oder versteckte Zitate, Meinungen oder soziale Codes. Diese Musik ist in gewisser Weise gar nicht dafür gemacht, gehört zu werden. Wie das Rauschen des Meeres oder der Wind im Laub.

(Das Festival Maerzmusik läuft noch bis zum 27. März)

Und wenn man schon Absagen aufzählt, die diese Musik enthält – an den Musikbetrieb, die Tonalität, das schöpferische Komponisten-Ego oder die Meinungsmaschine – sollte man auch die an den Fortschritt erwähnen. Üblicherweise will Musik irgendwo hin, baut eine Spannung auf und löst sie wieder. John Cage beschrieb das mal als Folge einer Unzufriedenheit mit der Gegenwart. Theodor W. Adorno beschrieb diese Unzufriedenheit als unüberwindbar, denn sie rühre von der Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit her. Der Mensch ist unzufrieden, weil er weiß, dass seine Zeit begrenzt ist.

Éliane Radigues Musik geht dabei nicht mit. Sie will partout nirgendwo hin, baut niemals Spannungen auf, um sie wieder aufzulösen. Im Gegenteil: Manche ihrer Stücke haben bereits nach Sekunden alles preisgegeben, was sie ausmacht – und dauern trotzdem noch eine Stunde an. Selbst wenn Radigue den Tod thematisiert – biografisch begründet mit dem Tod ihres eigenen Sohnes – zielt die Musik nicht auf irgendeine Erlösung ab. So bleibt selbst die 1998 entstandene „Trilogie de la Mort“ radikale Gegenwart – wie alle Musik der Komponistin. Das Festival Maerzmusik widmet ihrem Schaffen jetzt einen Schwerpunkt: Das elektronische Œuvre wird aufgeführt, neben Werken aus ihrer aktuellen Schaffensphase, in der sie wieder für Ensembles komponiert.

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