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Schrecklich schräge Familie. Fabietto (Filippo Scott) und seine Eltern (Toni Servillo, Teresa Saponangelo) sind mit Abstand die Normalsten im Schisa-Clan.

© Netflix

„Die Hand Gottes“ von Paolo Sorrentino: Als Diego Maradona ganz Neapel verzauberte

Paolo Sorrentino setzt mit seinem Netflix-Film „Die Hand Gottes“ der Stadt Neapel und dem Fußballstar ein wunderschönes Denkmal.

Diego Armando Maradona, der im vergangenen Jahr das Zeitliche gesegnet hat, gehört nicht nur in der Welt des Fußballs zu den Unsterblichen. Auch durch das Werk des italienischen Oscar-Preisträgers Paolo Sorrentino (2014 für „La Grande Bellezza“) geistert der Mythos. In „Ewige Jugend“ setzte er das Fußballidol mittels eines gespenstischen Doppelgängers auf so entblößende wie liebevoll witzige Weise ins Verjüngungsbad eines Luxussanatoriums. Stumm, übergewichtig, eine fette Ente, die mal ein kühner Adler war.

Sorrentinos für Netflix gedrehter Film „Die Hand Gottes“ zitiert den Superstar bereits im Titel. Bei der WM 1986 führte Maradona Argentinien mit zwei legendären Toren im Viertelfinale zum zweiten Titel: erst vermeintlich mit dem Kopf, dann mit einem 60-Meter-Dribbling, einem Jahrhundertlauf. Die Zeitlupe entlarvte den Kopfball schnell als Handspiel, der Maestro bekannte jedoch, dass „die Hand Gottes“ den Ball gelenkt habe.

Sorrentinos vornehmlich in Neapel und auf den Inseln Procida und Capri spielender Film beginnt zwar im Jahr 1984, als Maradona überraschend vom großen FC Barcelona zum vom Abstieg bedrohten SSC Napoli wechselt und in der Stadt am Vesuv schnell zum Volkshelden wird. Doch ist die Fußballleidenschaft des neapolitanischen Teenagers Fabietto mitsamt seiner vielköpfigen Familie hier nur ein hinter- und untergründiges Motiv. Ein Vulkanismus, der noch ganz andere Energien freisetzt.

Nach einem Flug über das Meer hin zum alten Hafen Neapels folgt die Kamera entlang der Uferpromenade der Fahrt eines alten Rolls Royce und scheint diesen in der Abenddämmerung zu verlieren. Schnitt. Feuerwerksraketen steigen in den Nachthimmel, ein Autostau, Gehupe und eine Gruppe Menschen wartet an einer Bushaltestelle.

Unter ihnen eine schöne Frau mit enger, fast durchsichtiger Bluse, Typ junge Sophia Loren. Da fährt plötzlich der schwarze Rolls Royce vor, das Wagenfenster des Fonds gleitet hinab und ein soignierter, zugleich dubioser älterer Herr spricht die wartende Schöne mit ihrem Namen an: „Patrizia!“ Man denkt an eine Anmache, doch die Frau erschrickt, der Alte sagt mit suggestiver Stimme, sie könne wohl keine Kinder kriegen, und die Frau starrt den ihr Unbekannten immer verwunderter an. Worauf er sagt, er sei „San Gennaro“ – und wolle ihr helfen, Kinder mit ihrem Ehemann zu bekommen. Auch dessen Namen Franco weiß der Mann, der selbst den Namen des Stadtpatrons von Neapel trägt. Hierauf fährt der Rolls weiter. Mit Patrizia.

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Der seltsame Heilige führt die Frau wenig später in einen morbiden Palast, in einen Saal mit einem herabgestürzten Kronleuchter und bröckelnden Böden und Fresken. Dort erscheint eine winzige, schwarz verhüllte Kapuzengestalt: der „Kleine Mönch“, ein weiterer neapolitanischer Mythos. Ein Kindsgeist, der Patrizia mit einem stumm zugesteckten Votivbildchen laut San Gennaro (der ihr machohaft an den Hintern langt) demnächst eigene Kinder verheißt.

Als Patrizia dann nach Hause kommt, in ein modernes Appartement der oberen Mittelklasse, schlägt sie ihr Ehemann Franco ins Gesicht. Woher sie so spät komme, sie sei eine Hure! Patrizia erlebt das wohl nicht zum ersten Mal und ruft bei der Familie ihres Mannes an. Ab dieser Szene beginnt sich das Personenkarussel des Films zu drehen.

[In den Kinos Kant, Delphi Lux, Rollberg, Intimes, Wolf; ab 15.12. bei Netflix]

Erst kreuzen Papa Saverio und Mama Maria mit ihrem etwa sechzehnjährigen Sohn Fabietto nachts zu dritt auf einer Vespa auf (wobei sich Saverio später als Bankdirektor entpuppt); sie landen sehr fidel in Francos und Patrizias Wohnung – und erstarren. Franco flucht immer noch, er will seiner Frau die Geschichte mit San Gennaro und dem Kleinen Mönch nicht abnehmen. Alle starren auf Patrizia, die mit blutigem Gesicht und verrutschtem Oberteil auf dem Bett sitzt, eine Brust freigelegt.

In Fabiettos Fabel steckt auch Sorrentinos reale Biografie

Es ist die machohafte Perspektive, die sich in „Die Hand Gottes" (wie häufig im italienischen Kino) noch wiederholen wird. Es ist indes auch der Blick des pubertierenden Fabietto: erschrocken, verführt, lüstern und beklommen. Ein Ausdruck des mit der Moderne vermengten barocken Katholizismus, des romanisch romantischen Wunderglaubens, der mehrbödigen Moral – zumal in einer Stadt, wo sich Schönheit und Verfall, Heiliges und Kriminelles unzertrennlich paaren. Ein Wunder ist dann auch, dass Maradona tatsächlich kommt.

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Bis auf eine kurze Szene sieht man ihn freilich nur von fern, im Fernsehen. Doch weil Vater Saverio, den Sorrentinos Lieblingsschauspieler Toni Servillo (einst in „Il Divo“ der Ministerpräsident Andreotti) mit souveräner Komödiantik gibt, Fabietto eine Dauerkarte für den SSC Neapel schenkt, ist der Sohn gerade bei einem Spiel mit Maradona – als ein häusliches Unglück seine Eltern das Leben kostet. Maradonas Magie wirkt auch außerhalb des Platzes.

Wie einst bei dem jungen Neapolitaner Paolo Sorrentino. In Fabiettos Fabel nämlich steckt auch Sorrentinos reale Biografie. Sie verleiht dem Film seine tiefere Authentizität, neben den vielen wunderbaren, oft sehr schrägen und im Original neapolitanisch sprechenden Akteuren: allen voran der an einen jungen Pasolini-Helden erinnernde Filippo Scotti als Fabietto. Und Luisa Ranieri als zunehmend tragische Patrizia. Zudem scheinen die zum Teil freakigen Familienmitglieder einer filmischen Commedia dell’arte im Stil eines Fellini entsprungen. Das Vorbild wird bei Sorrentino durchaus reflektiert beziehungsweise parodiert. Was hier einzig fehlt, ist der soziale Ausnahmezustand. Maradona und die fiebernde Stadt. Eine humanere Version der Neapel-Passionen in Curzio Malapartes Roman „Die Haut“, bleiben in diesem doch eher privaten Familiendrama wie der Filmtitel nur ein Zitat.

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