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1945 mit 31 Jahren spurlos in Berlin verschwunden. Schriftsteller Felix Hartlaub.

© Suhrkamp Verlag

Die Geschichte von Felix Hartlaub: Ein literarisches Ausnahmetalent, das 1945 spurlos verschwand

Matthias Weichelt erzählt in seiner Biografie „Der verschwundene Zeuge“ vom kurzen Leben des Schriftstellers Felix Hartlaub.

Als die Nazis 1933 in Berlin die Macht übernehmen, ist Felix Hartlaub noch keine zwanzig, hat vier Jahre Odenwaldschule hinter sich und ist zu Bildungszwecken in Mussolinis Italien unterwegs. In den Ruinen Pompejis steht er vor gipsernen Überresten der Bewohner, studiert ihre vom Todeskampf zeugenden Haltungen. Und bemerkt die Ungerührtheit der Mitreisenden, die nicht einmal den Unterschied zwischen Statue und Leichnam sehen.

„Das Wichtige an Pompeji, denken sie“, kommentiert Hartlaub in einem Reiseessay über die Besucher, „ist nicht der Untergang seiner Bewohner, sondern die Wiederauferstehung seiner Kunstwerke. Sie suchen den Sarkophag und nicht die Asche.“

Damals, so konstatiert Matthias Weichelt in seiner Felix-Hartlaub-Biografie, habe der Schriftsteller für sich jene Kategorie der Sensibilität und Empathie entdeckt, die für seine späteren Prosastücke aus den Kriegsjahren so bedeutsam wurde.

Es waren nicht zuletzt die emotionalen Verhärtungen der „Volksgenossen“, die Abgestumpftheit seiner Kameraden – und oft genug auch die an sich selbst bemerkte „rasche Abnutzung der menschlichen Sensibilität“ –, an denen sich Hartlaubs Texte entzündeten.

Felix Hartlaub, 1913 als Sohn des Kunsthistorikers Gustav Friedrich Hartlaub in Bremen geboren, gilt heute als literarisches Ausnahmetalent seiner Generation. Dass Matthias Weichelt, Chefredakteur der Literaturzeitschrift „Sinn und Form“, über ihn nun eine neue, dem Forschungsstand entsprechende Lebensbeschreibung vorgelegt hat – nach einer ersten 2005 von Monika Marose („Unter der Tarnkappe“) –, ist sehr zu begrüßen. Zumal sie ebenso kenntnisreich wie vorzüglich lesbar ist.

Der NS-Propaganda eine Geschichte von unten entgegensetzen

Nur ein schmales Werk aus Prosaskizzen, Fragmenten und Briefen hat dieser Schriftsteller hinterlassen. Zu Lebzeiten konnte nur seine Dissertation über „Don Juan d’Austria und die Schlacht bei Lepanto“ erscheinen. Noch in den letzten Kriegstagen verschwand Hartlaub als Obergefreiter mit 31 Jahren im umkämpften Berlin auf dem Weg in die Kaserne: spurlos.

Schon in der Kindheit, später beim Militär war ihm das Talent, sich unsichtbar zu machen, bescheinigt worden. Als seine Texte in den fünfziger Jahren erstmals erschienen, wurde ihre Bedeutung rasch erkannt. Und ebenso ihre Nähe zum Werk Kafkas, Hartlaubs Lieblingsautor neben Thomas Mann, Proust und Faulkner.

Seine halb dokumentarischen, halb literarischen Aufzeichnungen waren der Versuch eines Einzelgängers, der NS-Propaganda eine private Geschichtsschreibung von unten entgegenzusetzen. Inmitten der allgemeinen Verrohung verwandelte sich Hartlaub in ein unbestechliches Kameraauge, um sich seine Sensibilität zu bewahren, aber auch um einer späteren Generation Antworten zu geben: „Die Frage nach der Genese, nach dem ,Wie war es möglich‘, wird wohl die einzige sein, die noch an uns gerichtet, zu der vielleicht noch etwas zu sagen sein wird“, notierte er 1944.

Zunächst nur für sich selbst geschrieben, sollten seine Prosaentwürfe und -skizzen irgendwann, wenn der braune Spuk vorüber sein würde, Zeugnis ablegen, aber auch die Grundlage für ein geplantes Romanwerk abgeben.

Präzise hält er den Alltag fest

Wie 1941 im besetzten Paris, wo Hartlaub als promovierter Historiker bei der Auswertung der französischen Archive eingesetzt wurde. Am Quai d’Orsay, im verwüsteten Ministeriumsgebäude, bemerkte er prompt „pompejianische Effekte“, zeigten doch alle Kalender noch den 14.6.40 an, den Tag des deutschen Einmarsches.

Präzise hielt er das Gesehene und Gehörte fest: Wie die Landser mit ihren bleichen, finnigen Visagen in ihrer Rolle als Herrenmenschen die Geschäfte plündern („unsere Habebalds und Eilebeute“) oder in den Cafés über die Pariser Frauen fachsimpeln („Weeste wat, Maxe, sone jesunde kleene Rassenschande – ick wär jarnich abjeneigt …“).

Und wie seine namenlose, von Scham und Schuld gepeinigte Erzählerfigur auf ihren Wegen durch die gedemütigte Stadt „atomzertrümmernde Blicke“ erntet: von seinen Landsleuten, wegen der verdächtig großen Nase, und von den Einheimischen, die in ihm einen Spion vermuten.

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Zu Recht betont der Biograf, dass man diese Erzählerfiguren nicht mit dem Autor verwechseln, vielmehr stets die Literarizität dieser Texte beachten sollte. Dies ist in der Hartlaub-Rezeption nicht immer der Fall gewesen und gilt umso mehr für die späten Texte aus dem Führerhauptquartier.

Dort, im „Sperrkreis II“, war Hartlaub nach 1942 der Abteilung „Kriegstagebuch“ zugeteilt, wurde Ohrenzeuge von Stauffenbergs Attentat und schuf nachts, wenn er nicht verbotene Autoren wie Joseph Roth las, unter Lebensgefahr „ätzende Miniaturen der NS-Geselligkeit“ (Helmut Lethen).

Nach dem Krieg das Gesicht wahren

Seinen fiktiven, mit unerfüllten erotischen Bedürfnissen und einer fleckigen Hose kämpfenden Kriegstagebuchschreiber lässt er, die drohende Kriegsniederlage vor Augen, bereits sämtliche, wie Weichelt konstatiert, „Salvierungsphrasen der Nachkriegszeit“ vorformulieren.

„Ja um Himmels willen, wir waren ja nur kleine ausführende Organe, was haben Sie denn gedacht. (...) Hitler habe ich übrigens in den ganzen Jahren nur ein-, zweimal gesehen. Sie können sich den Zusammenhang gar nicht indirekt genug vorstellen, das ging um ein paar Dutzend Ecken herum, mein Gott, das war ein riesiges System von sich überlagernden Dienstbereichen, Kommandostäben, Sperrkreisen, wenn man da jeden einzelnen haftbar machen wollte.“

Eine wichtige Frage bleibt unbeantwortet

Hartlaub hatte dagegen schon nach der Reichskristallnacht, die er als Doktorand in Berlin erlebte, dem Vater geschrieben: „Ein Gefühl der Erniedrigung und Beschämung bei Allen, die ich sprach. (…) Dass man schlafen, essen kann ist schon sehr kompromittierend.“

Auf die Bedeutung der konfliktreichen Beziehung zwischen dem Sohn und seinem übermächtigen, sich vor der NS-Realität in die Kunstwissenschaft flüchtenden Vater geht Weichelt ausführlich ein, und zwar erstmals unter Hinzuziehung der „Eselsbücher“, einer Art Familienchronik der Hartlaubs.

Schade nur, dass der Biograf auf die eine große Frage dieses Schriftstellerlebens keine Antwort zu geben weiß: Ob Felix Hartlaub wirklich, wie später von seinem Freund Klaus Gysi behauptet, geheime Informationen an den kommunistischen Widerstand weitergab.

Der spätere DDR-Kulturminister war damals mit seiner Frau Irene im Parteiauftrag mit gefälschten Papieren in Berlin. „Dass sich der Kriegstagebuchschreiber aus dem Führerhauptquartier und die rassisch verfolgten Kommunisten bis in die letzten Kriegstage hinein bei jeder Gelegenheit treffen und austauschen“, sei jedenfalls, so Matthias Weichelt, „außergewöhnlich genug.“
Matthias Weichelt: Der verschwundene Zeuge. Das kurze Leben des Felix Hartlaub. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 232 Seiten, 20 €.

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