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Angehaltener Bahnhof. Wolf Vostell legte anno 1987 eine Dampflok auf den Rücken – „La Tortuga“. Der Stahlbogen markierte den Umriss der großen Bahnhofshalle.

© akg-images

Die Geschichte des Anhalter Bahnhofs: Zeit der Schildkröte

Zwischen Gedächtnislücken: Ein historischer Rundgang am Anhalter Bahnhof in Berlin, wo das Exil-Museum gebaut werden soll. Hier tummelten sich einst auch Mythen-Sucher.

Die Ruine des Anhalter Bahnhofs wird Teil der Fassade des künftigen Exil-Museums am Askanischen Platz. Dieser Bahnhof war das Letzte, was viele Emigranten sahen, die sich nach Bücherverbrennung und Reichstagsbrand Richtung Süden absetzen mussten. Das Portikus-Überbleibsel wurde in den 1970er Jahren zu einer Art Gedächtniskirche für die erste Nachkriegsgeneration in West-Berlin. Das Portal schien wie vom Himmel gefallen und ein Einstiegstor in die verschütteten und vernichteten Traditionen aus der Weimarer Zeit.

Dass der Portikus 1959 bei den Sprengungen des Anhalter-Bahnhof-Gerippes stehen blieb, hatte ganz direkt mit der Gedächtniskirche am Ku’damm im Herzen von West-Berlin zu tun. Dort wurde die Ruine des Kirchturms erst durch heftige Proteste vor dem Abriss bewahrt. Der Architekt Egon Eiermann hatte dort ursprünglich Tabula rasa machen wollen. Er brauchte den Platz für seine Wabenkirche, die heute längst vergessen oder abgerissen wäre, wenn es nicht zum Kompromiss gekommen wäre, der das ganze Spannungsverhältnis zwischen Ruine und Neubau, Vergessen und Erinnern entfaltet. Um Ärger zu vermeiden, blieb auch am Anhalter ein Fassadenrest zur späteren Verwendung stehen.

1961 kam die Mauer, und die Brache fiel komplett aus der Geschichte. Die Betriebsrechte für die unterirdischen Streckenführungen lagen bei der Ost-Reichsbahn. Der unterirdische Bahnhof der boykottierten S-Bahn war ohnehin der letzte Halt in West-Berlin, bevor die Bahn in hohem Ton pfeifend in den Berliner Unterwelten verschwand. Die Szenerie hätte auch in einen Post-Katastrophenfilm von Andrej Tarkowski gepasst.

Sowohl die Gedächtniskirche wie den Anhalter Bahnhof hatte Franz Schwechten, ein gebürtiger Kölner, gebaut. Seit der Eröffnungsfeier 1880 (nur wenige Wochen vor der Einweihung des Kölner Domes) symbolisierte der Bahnhof den Maßstabssprung Berlins von der preußischen Residenzstadt zur imperialen Metropole. „Das Anhalter-Bahnhofs-Gebäude besaß eine basilikale Struktur. Dieser Kopfbahnhof, das A und O des Reisens, nannte W. Benjamin ‚Mutterhöhle der Eisenbahnen‘. Hier wurde die Nähe der Ferne geopfert und die Begrenztheit des Alltags sollte in unbegrenzte Reiseträume überführt werden. Die Züge verließen die Bahnhofshalle, den Ort des Wandelns und Verwandelns, durch drei große Torbögen in die lichte Weite des Südens“, schrieb Ulrich Giersch im Preußenjahr 1981.

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Die Schockstarre des vergessenen Anhalters wurde 1977 schlagartig entdeckt, als die „bleierne Zeit“ des RAF-Terrors und der Reaktion des Staates darauf ihren Höhepunkt erreichte. Es war Karl-Ernst Herrmann, der legendäre Bühnenbildner der Berliner Schaubühne, der ein Modell der Anhalter-Ruine für Hölderlins „Winterreise“ in der Inszenierung von Klaus Michael Grüber mitten in das Berliner Olympiastadion setzte. Ein Bild von ungeheurer Wucht, das sofort zum Theatermythos wurde.

Auf dem Geländes der benachbarten Topographie probte man das Fahren ohne Führerschein

Der Berliner Künstler Raffael Rheinsberg begann, das Gleisfeld akribisch zu analysieren wie ein Tatortermittler, und fand Jahrzehnte später noch Stiefel, Ausweispapiere, verrostete Stahlhelme, Kofferreste der Menschen, die dort die letzten Tage der Schlacht um Berlin durchlebten. Dabei war das Gelände so gründlich umgepflügt und planiert worden, als wollte man alle Spuren verwischen. Das Spurensuchen selbst wurde zur Konzeptkunst.

Auf dem Gelände der benachbarten Topographie des Terrors ratterte damals eine Erdverwertung, und dazwischen wurde das Fahren ohne Führerschein ausprobiert. Rheinsbergs Ausstellung öffnete vielen die Augen dafür, dass Geschichte nicht zu begraben ist, sondern weiterlebt in den Funden, den Erinnerungen und Erzählungen, mit denen die Nachgeborenen den Sinn ihrer eigenen Existenz ergründen und dabei die typischen Fragen von Reisenden stellen nach dem Woher und Wohin. In der Wende zu den 1980er Jahren wurde der Anhalter Bahnhof zu einem Forschungsfeld der Selbstbefragung.

Das neue Exil-Museum soll hinter dem Portikus am Anhalter Bahnhof gebaut werden.
Das neue Exil-Museum soll hinter dem Portikus am Anhalter Bahnhof gebaut werden.

© Mike Wolff

Im Berlin der 1980er Jahre war es das Verdienst von Bazon Brock mit Ulrich Giersch, Spaziergänge rund um den Anhalter Bahnhof zu organisieren, die Gehen und Erkennen, Körper und Geist wieder verknüpften. Sie brachten das Areal zum Sprechen und stellten Bezüge her, die der Stadtplanung Leitplanken setzten.

Ein Höhepunkt in dieser Grabe-wo-du- stehst-Euphorie war Wolf Vostells „La Tortuga“ für das „Mythos Berlin“-Projekt von Eberhard Knödler-Bunte 1987 auf dem ehemaligen Bahnhofsgelände. Eine Lokomotive der Reichsbahn, Baureihe 52, lag auf dem Rücken wie die berühmte Schildkröte und streckte ihre blanken Räder gegen den geteilten Himmel über Berlin. Heute rostet „La Tortuga“ in einer Grube vor dem Stadttheater der Chemiestadt Marl im Ruhrgebiet, einer anderen Laborstadt der Moderne.

In den Achtzigern gab's am Imbisswagen neben dem Portikus polnische Würste

In meiner Zeit in den 1980er Jahren bei den Berliner Festspielen im Martin-Gropius-Bau gingen wir gern in der Mittagspause mal an den reichlich ramponierten Imbisswagen, der gleich neben dem Portikus dauerparkte. Dort briet ein hartgesottener Streetfood-Pionier aus Polen echte, scharfe und von Fett triefende Kolbasz-Würste. Es war eine Art Eichung aller Geschmacksnerven und eine Kostprobe für die abenteuerlichen Polenmärkte, die wenige Jahre später die Gegend überschwemmen würden. Karl Schlögel hat sie mit seinem Mitropa-Enthusiasmus akribisch porträtiert. Über sein Nachspüren entlang der Berliner Eisenbahnverbindungen tauchte auch das alte Mitteleuropa wieder auf den geistigen Landkarten auf.

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Jetzt kommt mit dem Bau des Exil-Museums eine neue Stufe der Sinngebung für das Areal. Er beendet die Brachenzeit endgültig. Und vielleicht sollten wir dabei nach vorne über die Portikus-Ruine hinausschauen auf den Askanischen Platz. Er ist nach Askanios, dem Sohn des Aeneas benannt, der aus dem brennenden Troja floh und nach langer Flucht über das Mittelmeer Alba Longa, die Mutterstadt Roms, gründen sollte.

Albrecht der Bär, der erste Markgraf von Berlin-Brandenburg, sah im Geschlecht der Askanier seine Ahnen und gab damit der Berlin-Story den Effet ins Migrantische. Lässt sich die Geschichte nicht überhaupt als eine von Flucht und Vertreibung erzählen, wie es demnächst die Stiftung gegenüber tun wird? Oder als eine vom Exil und der Beinahe-Unmöglichkeit des Ankommens? Künftig werden zwei Institutionen hier diesen Erfahrungsschatz aus unterschiedlichen Perspektiven heben, nach Schuld und Sühne fragen, nach Opfern und Tätern, Schicksalen, Verlusten, und Menschlichkeit einklagen.

Das Exil-Museum wird ein Kopfbahnhof sein, durch den die vielen namhaften und unbekannten Einzelnen hindurchkommen, die ins Exil ausweichen mussten, weil ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Sie zahlten dafür einen hohen Preis, wie das Schicksal Alfred Döblins zeigt, der als Kulturoffizier fürs Re-Educating zurückkehrte, aber niemals mehr ankam, sich rasch wieder nach Paris zurückzog und verstummte. Oder „innere Emigranten“, die blieben wie Erich Kästner, um alles zu dokumentierten, dann aber danach kaum ein Wort dazu herausbrachten und so laut wie möglich schwiegen.

Helmut Maternus Bien

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