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Ort des Gedenkens: Das Holocaust-Mahnmal in Berlin.

© REUTERS/Pawel Kopczynski/File Photo

„Die Gedächtnislosen“ von Géraldine Schwarz: Kraftvoller Appell für Erinnerungsarbeit

Gegen Vergessen und Revisionismus: In „Die Gedächtnislosen“ zeichnet die Journalistin Géraldine Schwarz die europäischen Aufarbeitung des Faschismus nach.

Die deutsch-französische Journalistin Géraldine Schwarz hat sich viel vorgenommen. Sie will „Europa seine Wurzeln zurückgeben, die die Gedächtnislosen versuchen, ihm zu entreißen“. Die Gedächtnislosen, das sind die Nationalisten und Rechtspopulisten, die sich mit ihrem Geschichtsrevisionismus in Europa auf dem Vormarsch befinden. Deren Verdrängen und Verfälschen setzt Schwarz mit ihrem Buch ein Plädoyer für Geschichtsaufarbeitung und Erinnerungsarbeit entgegen. Sie verknüpft in „Die Gedächtnislosen“ ihre Familiengeschichte mit den historischen Ereignissen. Ihr Augenmerk liegt auf der Rolle der Mitläufer. Sie erzählt von ihren deutschen und französischen Großeltern, insbesondere den Großvätern. Der eine war Unternehmer in Mannheim, er profitierte von der „Arisierung“ eines jüdischen Betriebs. Der andere war Gendarm unter Vichy.

Eindrücklich ist der Briefwechsel nach dem Krieg zwischen ihrem deutschen Großvater Karl Schwarz und dem ehemaligen jüdischen Besitzer seiner Firma, Julius Löbmann. Dieser hatte den Holocaust anders als seine Frau und Kinder überlebt. Löbmann forderte Reparationszahlungen für den Zwangsverkauf seines Unternehmens. Schwarz’ Weigerung macht am Beispiel eines Einzelnen erfahrbar, wie schwer sich die bundesrepublikanische Gesellschaft nach dem Weltkrieg damit tat, Verantwortung für getanes Unrecht zu übernehmen. Schwarz lässt hier, was gut und bedrückend zugleich ist, die Quellen für sich sprechen, den Briefwechsel zwischen ihrem Großvater und Löbmann sowie dessen Anwältin. Manchmal aber versucht sie auch, ihr Werk lebendiger werden zu lassen und imaginiert sich die Gefühle und Gesten ihrer Protagonisten. Das wirkt kitschig, anmaßend.

Manchmal fehlt es an Tiefe und Genauigkeit

„Die Gedächtnislosen“ spannt thematisch einen weiten Bogen. Schwarz verbindet nicht nur die Leben ihrer deutschen und französischen Vorfahren und das der Familie Löbmann mit einem historischen Abriss über die Nazi-Zeit und das Vichy-Regime. Sie untersucht auch, wie die Aufarbeitung der eigenen Geschichte, wie die Erinnerungsarbeit in Deutschland und Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte und noch erfolgt. Und sie beleuchtet die aktuelle Situation in Italien und Österreich mit ihren starken populistischen Bewegungen und einer verspäteten, weniger ausgeprägten Geschichtsaufarbeitung.

Géraldine Schwarz, geboren 1974 in Straßbourg
Géraldine Schwarz, geboren 1974 in Straßbourg

© Mathias Bothor

Das Vorhaben von Géraldine Schwarz, ein umfassendes Bild der europäischen Aufarbeitung des Faschismus zu zeichnen, ist ehrenhaft. Manchmal allerdings fehlt ihren Ausführungen Tiefe und Genauigkeit. Der historische Überblick wirkt häufig erstaunlich flach. Trotzdem ist „Die Gedächtnislosen" ein kraftvoller, unerlässlicher Appell – erst recht in Zeiten, in denen Politiker wie Alexander Gauland Hitler und den Nationalsozialismus einen „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte nennen.

Géraldine Schwarz:  Die Gedächtnislosen. Erinnerungen einer Europäerin. Aus dem Französischen von Christian Ruzicska. Secession Verlag, Zürich 2018. 445 Seiten, 28 €.

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