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Annie Ernaux 2016 bei einem Literaturfestival in Rom.

© Ernesto Ruscio/Getty Images

"Die Frau" von Annie Ernaux: Eindringliches Porträt der Mutter

Zwischen Literatur, Soziologie und Geschichtsschreibung: Annie Ernaux hat mit "Die Frau" ihrer Mutter ein feministisches Denkmal gesetzt.

Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux war sich nach dem Tod ihres Vaters 1967 schnell im Klaren darüber, dass sie über diesen ein Buch schreiben würde. Sie brauchte dafür jedoch lange Jahre, um es mit „Der Platz“ schließlich zu schreiben; 1984 wurde es veröffentlicht. Bei ihrer Mutter hat sich das etwas anders dargestellt.

Ernaux spricht zwar wiederum von einem „schwierigen Unterfangen“, davon, viel Zeit zu verbringen mit Nachdenken darüber, „was ich sagen will, über die Auswahl und Reihenfolge der Wörter“.

Doch es dauert dieses Mal nur einige Wochen nach dem Tod der Mutter am 7. April 1986, da sitzt Ernaux am Schreibtisch, um über die Frau zu schreiben, die für sie „schon immer da“ war.

Aber auch, in einem literarischen Sinn, „um die Frau zu fassen bekommen, die außerhalb von mir existiert hat, die am ländlichen Rand einer Kleinstadt in der Normandie geboren wurde und auf der geriatrischen Station eines Krankenhauses in einem Vorwort von Paris gestorben ist.“

Ernaux schreibt eine ganz eigene autobiografische Literatur

Annie Ernaux ist zu diesem Zeitpunkt schon eine erfahrene Schriftstellerin. 1974 hatte sie mit „Les Armoires Vides“ („Die leeren Schränke“) debütiert, einem gleichfalls autobiografisch inspirierten Buch über die Kindheit und Jugend einer Frau in einer französischen Kleinstadt; zwei weitere Bücher von ihr folgten.

Als das Buch über ihre Mutter 1987 erscheint, „Die Frau“, hat sie ihre literarische Form lange gefunden: eine ganz eigene Art autobiografischer Literatur, die stets soziologische, gesellschaftspolitische Aspekte mitberücksichtigt, in der das Private und das Politische parallel verlaufen und mitunter gar nicht zu trennen sind.

So wie sie es in „Die Frau“ an mehreren Stellen formuliert: Die Wahrheit über ihre Mutter herauszufinden sei ihr Anliegen, und zwar mittels von Worten. Dabei wolle sie aber „unterhalb dessen bleiben, was gemeinhin als Literatur gilt“ und „eher etwas zwischen Literatur, Soziologie und Geschichtsschreibung“ verfassen, wie es am Ende heißt.

Nun kommt Ernaux’ Mutterbuch nach 1993 und 2007 zum dritten Mal in einer deutschen Übersetzung heraus, fünfunddreißig Jahre nach der Erstveröffentlichung. (Aus dem Französischen von Sonja Finck. Bibliothek Suhrkamp, Berlin 2019. 89 Seiten, 18 €.) Ob Ernaux immer noch das Gefühl hat, ihrer Mutter gerecht worden zu sein, die Verbindung zwischen derem Leben und ihr als Toten hergestellt zu haben? Wie beim Vaterbuch fällt bei „Die Frau“ auf, wie schmal diese Erinnerungen, dieses Porträt geworden sind, knapp neunzig Seiten nur.

Ein ganzes Leben auf so wenig Raum erzählen?

Ein ganzes Leben auf so wenig Raum erzählen? Hat es bei der Autorin nicht mal den Gedanken gegeben, zu wenig Worte gemacht, auf bestimmte Aspekte dieses Lebens, des Charakters der Mutter zu wenig eingegangen zu sein? Zumal die Beerdigung, manche Szene vorher und während dieser so einigen Platz einnehmen. Ähnlich wie am Ende die Alzheimer-Erkrankung der Mutter mitsamt Symptomen und Auffälligkeiten, die werden in „Die Frau“ detailliert beschrieben.

Das wiederum fällt umso mehr auf, da Ernaux die Jahre zuvor schnell abhandelt. Das ist immerhin eine Zeitspanne von fast zwanzig Jahren, in denen die Mutter ihren Lebensmittelladen verkauft und Rentnerin ist, eine rüstige dazu, bis zum Beginn der Erkrankung.

Trotzdem zeichnet „Die Frau“ wie den Vorgänger über den Vater eine große Intensität aus, sind die Kürze und die Kargheit der Sätze sehr eindringlich. Annie Ernaux kommt der Mutter sehr nah, ihrer Herkunft sowieso, aber auch ihrem Charakter, den Stärken und Schwächen. Aber mehr und mehr widmet sich die französische Schriftstellerin dem Verhältnis der beiden Frauen zueinander, den Problemen, die sie irgendwann bekommen.

Die kulturelle und milieubedingte Entfernung bei der Tochter wächst

Geboren 1906 als viertes von sechs Kindern im nordfranzösischen Yvetot, gelegen zwischen Rouen und Le Havre, wächst die Mutter in bäuerisch-proletarischen Verhältnissen auf, geht im Alter von 12 Jahren von der Schule ab und beginnt in einer Seilerei zu arbeiten. 1928 heiratet sie. Dabei tut sie alles, um dem für sie vorbestimmten, naheliegenden Schicksal zu entgehen, „sichere Armut, mögliche Alkoholsucht“.

Ein paar Jahre später erfüllt sich ihr Traum von einem Lebensmittelladen – für die Mutter nicht zuletzt der Beweis dafür, der eigenen Klasse entkommen zu sein, es zu etwas mehr gebracht zu haben, trotz weiterhin beengter Verhältnisse und der ständigen Angst davor, dass es mit dem Geld nicht „reicht“, es wieder abwärts geht.

Die Mutter ist es auch, im Gegensatz zum scheueren, seiner Klasse verbundenen Vater, die „kultivierter“ werden will. Sie beginnt, auf ihre Ausdrucksweise zu achten, liest Bücher von Bernanos, Mauriac und Colette, kauft ihre Kleider im besseren Kaufhaus der Stadt.

Und sie hat für ihre – nach dem Diphtherie-Tod des ersten Kindes, ebenfalls eines Mädchens – einzige Tochter, die 1940 geboren wurde, ebenfalls höhere Pläne: „Ihr größter Wunsch war es, mir alles zu geben, was sie selbst nicht gehabt hatte.“

Damit verbunden sind noch größere Anstrengungen und Lasten, die die älter werdende Frau auch zum Ausdruck bringt, „Du kostet uns ganz schön viel Geld“. Was bei der Tochter zusätzliche Schuldgefühle auslöst; und die kulturelle und milieubedingte Entfernung wächst.

Am Dienstag erhält Ernaux in der Akademie der Künste den Prix de l’Académie de Berlin

Im Kern geht es Annie Ernaux im Verlauf ihrer Erinnerung schließlich um die Auseinandersetzungen, die sie mit ihrer Mutter gehabt hat. Diese sind pubertärer Natur, haben zunehmend jedoch mit den anderen Lebensverhältnissen zu tun, ihren neuen, bürgerlichen.

In diesen landet die junge Annie zunächst an ihren Ausbildungsstätten in Rouen und London (was Ernaux zuletzt ausführlich in dem Buch „Erinnerung eines Mädchens“ geschildert hat), später mit ihrem Mann und den Kindern als Lehrerin erst in Annecy und dann in der Umgebung von Paris. Dort diskutiert sie über Jean-Paul Sartre und die Freiheit, es sind die sechziger Jahre, schaut Antonioni-Filme, diskutiert die Mai-Rebellion. Immer wenn sie dann an ihre Mutter denkt, „hatte ich ein schlechtes Gewissen.“

Im Vergleich mit dem Vaterbuch fällt auf, dass Annie Ernaux sich manchmal zurücknehmen muss, es ihr schwer fällt, stets kühl und nüchtern zu analysieren. Die Anteilnahme und Empathie scheinen größer als beim Vater gewesen zu sein, die Bindung zur Mutter größer, die Angst vor deren Tod.

Es gibt in dem Buch immer wieder Sätze, die voller Trauer sind; die anzeigen, dass Ernaux den Tod ihrer Mutter nicht begreifen kann (der ist eben in diesem Fall nicht lange her, was sich in Stimmung und Ton des Buches niederschlägt), dass die Schutzlosigkeit durch diesen Verlust eine existentielle ist. Als sie einmal erwähnt, dass die Mutter acht Tage vor Simone de Beauvoir starb, ist das primär als Anerkennung einer Lebensleistung zu verstehen; als Anerkennung eines emanzipatorischen Kampfes. „Die Frau“ ist deshalb nicht zuletzt ein feministisches Denkmal.

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