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Fotomontage oder Wirklichkeit? Die IS-Flagge in der antiken syrischen Ruinenstadt Palmyra. Das Bild stammt von einer Website des Dschihad.

© AFP

Die Flagge des IS: Krieg der Zeichen

Wer Macht und Land beansprucht, steckt Flaggen auf – so wie die IS-Terroristen es für ihren Fantasiestaat tun, in Syrien genauso wie beim Anschlag auf ein Gaslager in Frankreich.

Von Caroline Fetscher

Noch fragen sie, wann ihr Vater wieder nachhause kommt. Eines Tages werden sie wissen wollen, warum er gar nicht mehr zurückkam. Drei Kinder hat der mutmaßliche Attentäter von Saint-Quentin-Fallavier, Yassin Salhi. Sie sind, so sagt die französische Presse, zwischen sechs und neun Jahre alt. Und sie werden wohl oder übel erfahren, welche Katastrophe ihr Vater an jenem Freitag verursacht hat, als sie seine Gegenwart verloren: Versuchte Brandstiftung, ein geköpftes Mordopfer, Verletzte, ein Tatort, der mit schwarzer Stoffbahn markiert war, auf der arabische Schriftzeichen zu lesen waren.

Der 35-jährige Familienvater im Departement Isère hatte sich den Terror auf die Fahnen geschrieben. Mit dem von ihm inszenierten Ensemble an Taten und Zeichen wollte er das verbreiten, was Terror im Wortsinn bedeutet: Schrecken. Als Signatur seiner Tat hinterließ er das beschriftete Tuch, das als Botschaft gelesen werden soll. Frankreichs Behörden haben die Übersetzung des Schriftzugs noch nicht bekannt gegeben. In den Medien ist dort bisher schlicht die Rede von „drapeaux islamiques“, von „islamischen Fahnen“. Fotos zeigen den Fabrikzaun aus Maschendraht, auf den der Täter seine offenbar selbst gebastelte Fahne drapiert hatte, neben dem abgetrennten Kopf. Eine weitere, ähnliche Fahne soll dieser oder ein anderer Täter während der Attacke über das Fabrikgelände getragen haben.

Allem Anschein nach wollte Yassin Salhi seine Sympathie für den selbsternannten „Islamischen Staat“ zum Ausdruck bringen, den nichtstaatliche Akteure in weiten Teilen von Syrien und dem Iran ausgerufen haben. Wie Tausende anderer dschihadistischer Sympathisanten in aller Welt, Einzelgänger oder Gruppen, nutzte er dafür schwarze Fahnen oder fahnenähnliche Textilien. Beschriftet sind sie meist mit der Schahada, dem Glaubensbekenntnis des Islam, das als dessen „erste Säule“ gilt: „Es gibt keinen Gott außer Gott und Mohammed ist sein Prophet.“ Auf diese Weise repräsentiert sich der „Islamische Staat“ (IS) durch seine Fahne, wobei die Aussage zu Mohammed in einem kleinen Kreis unter der ersten Zeile steht.

Die Grafik der IS-Fahne wird auch von Boko Haram oder der Al-Nusra-Front verwendet

Die in Westafrika operierende Terrorgruppe Boko Haram versammelt sich unter einer gleich gestalteten Fahne. Auch die salafistische Al-Nusra-Front sowie Al-Qaida in Syrien verwenden dieses ikonographische Programm für ihre Fahne, setzen aber an den Rand des Textils die Namen ihrer Gruppe.

Tausendfach sind solche Fahnen im Internet abgebildet, unter anderem auf wilden Videomontagen, die neben Weltkarten mit gigantischen, geschwärzten – in der Fantasie eroberten – Regionen zeigen, wie die Terror-Fahne auf dem Champs Élysées weht, in Andalusien oder über dem römischen Kolosseum. Tausendfach wehen die Fahnen real und aus realem Stoff bereits im „Islamischen Staat“ selber, wo auch Behörden und Polizeiautos damit dekoriert werden. Aufgesteckt wurde die Fahne auf den Ruinen der antiken Spolien von Palmyra – real oder per Fotomontage.

Auch in der Kolonialzeit markierten Flaggen Herrschaftsansprüche

Nach Charleston. Die Konföderiertenflagge verbrennen: ein Protestakt gegen Rassismus.
Nach Charleston. Die Konföderiertenflagge verbrennen: ein Protestakt gegen Rassismus.

© picture alliance / dpa

In Frankreich wird der „Islamische Staat“ inzwischen häufig „Daesh“ genannt, anlautend an das arabische Akronym, um so den Legitimität suggerierenden Begriff „Staat“ für das Territorium des Terrors zu meiden. Völlig richtig wird diese Sprachregelung gefordert, denn von einem Staat im Sinne eines international in seinen Grenzen anerkannten Gebietes darf hier nicht gesprochen werden. Aus ähnlichem Grund hat die Gouverneurin des US-Bundesstaates South Carolina unlängst verlangt, dass die Fahne der Konföderierten, die Südstaatenflagge, an der manche ultrakonservativen Amerikaner hängen, vom Regierungssitz und Parlament des Bundesstaates eingeholt wird. Der geständige Attentäter, der in Charleston ein Massaker in der Emanuel African Methodist Episcopal Church, anrichtete, hatte mit der Südstaatenflagge posiert. Damit war das Maß voll – der politische Missbrauch dieser Flagge soll nun aufhören.

Nationalflaggen stehen für ein Ganzes, ein Kollektivabstraktum (wie in: „England hat gewonnen“, für eine britische Sportmannschaft). Flaggen von Nationalstaaten sind heute Repräsentationen eines völkerrechtlich anerkannten Territoriums. Institutionelle Inhaber solcher Territorien, Staaten, haben einen Sitz in den Vereinten Nationen, ratifizieren internationale Abkommen, unterhalten diplomatische Beziehungen und so fort.

Nationen sind Konstrukte. Sie wurden irgendwann im Lauf des 19. Jahrhunderts erfunden und haben sich bis in die Gegenwart als politische, geographische Ordnungskriterien etabliert. Mit ihnen erfunden wurden die Nationalsymbole, allen voran die Flaggen. Im Wettrennen um die koloniale Oberhoheit über nicht-nationalistisch geordnete Gebiete, etwa auf dem afrikanischen Kontinent, spielten Flaggen oft Hauptrollen.

Anschaulich schildert der amerikanische Historiker Henry Bucher die Rivalitäten um Gebietsansprüche an der Küste Gabuns, wo 1845 ein symbolischer Machtkampf zwischen Franzosen, ihren Rivalen, den Briten und lokalen Wortführern entbrannt war. Bucher nennt 1845 „The Year of the Flag Wars“. Beim Auftauchen britischer Marineschiffe vor der Küste hatten die Küstenbewohner den Union Jack gehisst, anstatt, wie von Frankreich verlangt, die Trikolore – die Westafrikaner wollten ihre Loyalität mit den bewährten Handelspartnern demonstrieren. Erzürnt forderten die Franzosen das Hissen der „richtigen Farben“, drohten, den Handel zu boykottieren und feuerten einige Kanonenkugeln auf Siedlungen an der Küste. So ging es hin und her, bis die Clanchefs nachgaben. Sogar in den Dörfern der Flussanrainer im Regenwald wurden dann kleine Trikolore-Wimpel verteilt, mit denen die Kinder der Missionsschulen am Ufer winken durften.

Die falsche IS-Fahne wird sich irgendwann in Fäden auflösen. Was bleibt, sind die traumatischen Spuren des Terrors

Kein Zweifel, sämtliche Nationalsymbole wurden irgendwann erfunden. Dieses Faktum machen sich Irredentisten (also "Anschluss"-Befürworter) und Separatisten zunutze, die von Eigenstaatlichkeit träumen und Versuche unternehmen, sich durch Setzung zu Staaten zu erklären. Warum dürfen wir nicht einfach unsere eigene Flagge basteln? Doch so werden Geltung, Legitimität nicht erlangt. Ja, Nationen sind Konstrukte, aber es sind die gegenwärtig international geltenden Konstrukte. Jenseits des Rechts mit Gewalt und Terror Gebiete zu beanspruchen, ob im Namen einer Ideologie oder einer Konfession, führt über kurz oder lang in die Anomie.

Auch die falsche Fahne des falschen Staates der Islamisten wird sich voraussichtlich in einigen Jahren in einzelne Fäden und Stoffstücke auflösen. Anders wird es mit den traumatischen Spuren aussehen, die der Pseudo-Staat bei denen hinterlässt, die unter dieser Fahne leben mussten. Daran werden Generationen emotional und politisch arbeiten müssen, auch die Kinder und Enkel des Attentäters von Saint-Quentin-Fallavier. Kinder eines Vaters, der irgendwo, vielleicht bei einem Schneider, im Internet oder auf einem Markt, ein schwarzes Stück Stoff gekauft hatte, um damit eine grauenvolle Botschaft zu senden.

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