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Kultur: Die explodierte Stadt

„Overdrive“: Das Getty Center zeigt die Dramatik der Entwicklung von Los Angeles.

Die gängigen Vorurteile über Los Angeles sind mit Vorsicht zu betrachten. Es fängt damit an, dass gemeinhin das Auto als Ursache der Zersiedelung und der Aufreihung der Stadt und ihrer zahllosen Nachbargemeinden entlang der Freeways angesehen wird. Doch es war das Schienennetz, das sich zuvor von der Innenstadt aus in alle Himmelsrichtungen krakenartig ausdehnte. Als die Gleise des hervorragend funktionierenden, größten Nahverkehrsnetzes der Welt bereits ab den 1920er Jahren stillgelegt wurden, folgten die Schnellstraßen ihren vorgebahnten Trassen. Den Zusammenhang von Verkehrswegen und Immobilienspekulation hatte bereits Eisenbahnkönig Henry Huntington erkannt und gewinnbringend genutzt.

Diese nicht unwichtige Korrektur nimmt der Besucher der Ausstellung „Overdrive. L.A. Constructs the Future, 1940 - 1990“ mit, die das Getty Research Institute zeigt, als Teil des Getty Center auf den Hügeln im Westen der Stadt. Sie ist das Hauptereignis eines ganzen Ausstellungsreigens, der sich mit Architektur und Stadtentwicklung von Los Angeles beschäftigt. Als Nachfolger der Veranstaltungsreihe „Pacific Standard Time“, deren Hauptausstellung zur bildenden Kunst in Los Angeles vor zwei Jahren auch im Berliner Martin-Gropius-Bau gastierte, zieht „Overdrive“ so etwas wie einen Schlussstrich unter den ewigen Minderwertigkeitskomplex Südkaliforniens gegenüber dem Osten der USA. Auch die Architektur dieser auf den ersten Blick unarchitektonischsten Stadt überhaupt wird nun ihrer Bedeutung gemäß gewürdigt. Ein dankbares Publikum entdeckt seine eigene Geschichte.

Die besteht baukünstlerisch durchaus nicht allein aus den fabulösen Eigenheimen – hier stolz Residenzen genannt –, wie sie die österreichischen Exilanten Richard Neutra und Rudolph Schindler, dazu Pierre Koenig oder John Lautner entworfen haben. Durch die meisterhaft inszenierten Fotografien von Julius Shulman wurden sie zu Ikonen. Überhaupt wird die Nachkriegszeit bis Ende der sechziger Jahre als Ära eines ungestümen, Träume verwirklichenden Fortschrittsoptimismus ersichtlich. Freilich werden in diesen Jahren Entwicklungen vollendet, die bereits vor dem Krieg angelegt waren, vor allem eben das lineare Wachstum der Stadt entlang der viele Meilen langen, aus der alten und allmählich aufgegebenen Innenstadt bis an den Pazifik führenden Hauptverkehrsstraßen. Kaufhäuser werden an den Wilshire Boulevard im Westen gelockt, an dessen zur magnificent mile verklärten Mittelabschnitt, während im Osten, in Anaheim, das 1955 eröffnete Disneyland den American Dream vorführt – so exakt, dass die Mondlandung 14 Jahre später nur mehr als Erfüllung der Disney-Vorstellung von der Eroberung des Weltraums erscheint.

Die Kuratoren Wim de Wit und Christopher James Alexander haben aus durchweg hervorragendem Material an Zeichnungen, Plänen, Modellen und Fotografien eine zudem exzellent präsentierte Ausstellung zusammengestellt, die nicht erneut das Auto verteufelt, sondern die besonderen Errungenschaften an Mobilität, Raumgewinn, Individualisierung und nicht zuletzt das Eigenheim für jedermann herausstellt, die der allgegenwärtige Gebrauch des Autos im halben Jahrhundert seines ungebremsten Aufstiegs bis gegen 1970 ermöglichte.

Die Wahrnehmung ändert sich. Es entsteht eine Stadt zum Vorbeifahren, zum Einparken, zum Unterwegssein als Lebensform. Man kann Autobahnknoten heutzutage nicht mehr als Ideal preisen, aber die ingenieurtechnische Eleganz, die sie in Los Angeles entwickeln, darf man durchaus als Inbegriff des industriellen Zeitalters würdigen.

Die Kehrseite des Autobahnbaus ist die Vernachlässigung vor allem der neben, ja beinahe unter den Freeways liegenden Barrios, der Wohn- und Arbeitsquartiere der Millionen Einwanderer, zumeist von jenseits der mexikanischen Grenze. Dass Los Angeles, ökonomisch gesehen, lange Zeit vor allem eine Industriestadt war und sich dessen durchaus bewusst, zeigt die Ausstellung an exquisiten Beispielen technischer Bauten und Infrastrukturen. Wer wüsste schon, dass in den zwanziger Jahren ein glattes Fünftel der Welterdölproduktion in und um Los Angeles gefördert wurde? Wo sich die Pumpen in hölzernen Bohrtürmen bewegten, breiteten sich mit dem Ende der Förderung Eigenheimsiedlungen aus, der berüchtigte urban sprawl grassierte, die Zersiedelung.

Die Ausstellung des Getty Research Center schließt, ein wenig zu selbstverliebt, mit den formalen Etüden der Dekonstruktivisten, unter denen Frank Gehry zum Weltstar aufstieg. Er fing bescheiden an, mit seinem eigenen Haus aus Sperrholz, Blech und Maschendraht. Architekten ohne Aufträge bauen stets ein (Vorzeige-)Haus für sich oder die Eltern, das hat auch der große Postmoderne Robert Venturi so gemacht. Er hätte übrigens das 1975 gemeinsam mit Denise Scott Brown verfasste Kultbuch „Learning from Las Vegas“, das erstmals die architektonische Antwort auf die neuartige, automobile Wahrnehmung würdigte, auch anhand von Los Angeles verfassen können. Aber Los Angeles war den beiden zu groß. Es ist eben eine Stadt oder besser eine urbanisierte Landschaft, die nicht auf einen Blick zu übersehen ist, sondern buchstäblich erfahren werden muss. Bernhard Schulz

Getty Center, bis 27. Juli, weitere Ausstellungen bis September. Katalog 59,95 Dollar. Mehr unter pacificstandardtimepresents.org

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