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Stephanie Eidt als Europa/Grace sucht Hilfe bei Christian Kuchenbuchs Detekiv Max Messer.

© Jörg Carstensen/dpa

„Die Entführung Europas“ am Berliner Ensemble: Fahrstuhl in den Kongo

Alexander Eisenach gibt mit der Heiner-Müller-Hommage „Die Entführung Europas“ sein Debüt am Berliner Ensemble.

Kurz nach dem Mauerbau wurde vom Rundfunk der DDR ein „Kriminalhörspiel“ produziert. Es heißt „Der Tod ist kein Geschäft“, handelt von schwer mafiösen Gangster-Syndikaten, die in Las Vegas die Glücksspiel-Strippen ziehen, und stammt von einem gewissen Max Messer. Hinter diesem Pseudonym, bei dem Branchenkennern nicht von ungefähr Max’ Namensvetter Mackie aus Brechts „Dreigroschenoper“ einfällt, verbirgt sich kein Geringerer als Heiner Müller. Der war damals gerade aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen und sein Stück „Die Umsiedlerin“ direkt nach der Uraufführung verboten worden.

Das Berliner Ensemble, das unter seinem neuen Intendanten Oliver Reese neben viel Gegenwart auch einen Traditionspflege-Strang der Hausheiligen Brecht und Müller angekündigt hat, ließ sich von diesem Max-Messer-Sujet nun zu einem neuen Stück inspirieren: Theoretisch eine gute Idee, das Gewesene möglichst staubfrei mit der Gegenwart zu verbinden. Nur kommt dann eben die leidige Praxis.

Ausuferndes Müller-Porpurri

Und die sieht in diesem Fall ziemlich enttäuschend aus. Zugefallen ist die Arbeit am Müller-Messer-Mythos in Text wie Regie dem 33-jährigen BE-Debütanten Alexander Eisenach, der sich offenbar mit dem Impetus des strebsamen Musterschülers an den Schreibtisch gesetzt hat. Das Ergebnis wirkt jedenfalls, als wären große Preise dafür zu gewinnen, dass man auf 30 Dramen-Seiten so viele Müller-Texte, -Motive und -Gesprächsfetzen unterbringt wie möglich. Das klingt dann eben häufig genauso bemüht wie die unter Metaebenen ächzende Plotanlage des Abends insgesamt.

Im Mittelpunkt von Eisenachs „Crime Noir“ steht der „schreibende Detektiv“ Max Messer, den Christian Kuchenbuch genretypgerecht auf die BE-Studiobühne pflanzt und der es mit einem Entführungsfall von denkbar plakativer Überbauverkrampfung zu tun bekommt: Europa ist verschwunden, die Gattin des windigen Syndikatschefs Jupiter Kingsby (Peter Moltzen) – was dem Abend auch den Titel „Die Entführung Europas“ verleiht.

Auf den Spuren Joseph Conrads

Mit kokettem Posing und kühl berechneter Beinfreiheit haucht Messers frühere Frau Grace (Stephanie Eidt) den Ex im schwarzweiß getäfelten Bühnenbild von Daniel Wollenzin deswegen um Hilfe an. Grace hat sich zwar eigentlich längst das Leben genommen, aber – auch die „Totenbeschwörung“ ist ja ein Müller-Motiv – nach wie vor irgendwie was mit Europa zu laufen. Nur wer hätte das nicht? Ein Umstand, der weidlich ausgenutzt wird.

Soll heißen: Die nachfolgende Suchbewegung des Herrn Messer lässt nicht nur keine Möglichkeit des Müller-Œuvre-Placements aus, sondern zapft auch den Werkkosmos weiterer maßgeblicher Kollegen zum historisch-europäischen Sujet an. Wenn sich der Detektiv etwa als „Mann im Fahrstuhl“ wiederfindet, jene im Theater hoch frequentierte Figur aus Müllers Revolutionsstück „Der Auftrag“, trifft er auf den „Engel der Geschichte“. (Ja, auch Walter Benjamin wird von Eisenach gern zitiert.) Statt auf eine „Dorfstraße in Peru“ führt der Müller’sche Historien- Fahrstuhl hier anschließend geradewegs ins Joseph-Conrad’sche „Herz der Finsternis“, in den Kongo – wo das Entführungs-„Opfer“ Europa schließlich aufgefunden wird und seine blutige Tätergeschichte(n) offenbart. „Diese ganzen abgehackten Hände, die versinkenden Schlauchboote ..., die Hungernden und Versklavten“, lässt Alexander Eisenach in seinem Text Europa zusammenfassen, „sie sind nicht etwa das Nebenprodukt unseres Lebens, sie sind dessen Kern. Das ist unser eigentliches Handeln.“

Jahrhundert der Folter-Zahnärzte

Um solche Sätze zu verlebendigen, legt sich Eisenach als Regisseur mit optischen Detektivstory-Anleihen, Ironie-Injektionen und viel moderner Theatertechnik ins Zeug: Große Teile des Abends rollen als Film auf einem flächendeckenden semitransparenten Vorhang ab. Knackige Müller-Bonmots wie das vom „Jahrhundert der Zahnärzte“ aus dem Text „Ajax zum Beispiel“ walzt der Abend dankbar aus: Peter Moltzen macht seinen Syndikatschef Jupiter Kingsby zu einem blutrünstig durch die Geschichte der zahnmedizinischen Folterinstrumente irrlichternden Horror-Mediziner – was vom Publikum entsprechend goutiert wird.

Apropos: Für einen Lacher haut man hier gern auch mal müde Insider-Jokes wie den vom Hype der „immersiv-interdisziplinären Stadtraumbespielung“ raus. Und mit Max-Messer-Verlegerin Margaret (Kathrin Wehlisch) zieht Zahnarztsyndikatschef Kingsby in Anspielung auf die Anfangsjahre der Castorf-Volksbühne einmal witzelnd in Erwägung, einander mit Kartoffelsalat zu bewerfen. Hätten sie mal! Denn eines steht fest: So angestrengt und thesenträgerhaft wie dieser Abend war die Volksbühne wirklich nie.

Wieder am 23./ 24., 30. Oktober, 20 Uhr

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