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Reisen bildet. Archäologiestudentin Laura (Seidi Haarla) will nach Murmansk, um Petroglyphen zu sehen. Doch der Abteilgenosse nervt .

© 2021_Sami_Kuokkanen_Aamu_Film_Company

Die Eisenbahnkomödie "Abteil Nr. 6" im Kino: Laura und der gute Russe

In Cannes prämiert und in Deutschland fast auf dem Index gelandet: Die finnische Eisenbahnkomödie "Abteil Nr. 6" erzählt eine Freundschaftsgeschichte.

Bloß gut, dass der kurzzeitig von der Cinestar-Kette erwogene Boykott-Reflex, „Abteil Nr. 6“ aus dem Kino in der Kulturbrauerei zu verbannen, schnell wieder verworfen wurde. Die warmherzige Freundschaftsgeschichte des finnischen Regisseurs Juho Kuosmanen nicht zu starten, weil der russische Darsteller Yuriy Borisov eine Hauptrolle spielt, ist nun garantiert der falsche Weg, um Aggressor Russland eins auszuwischen.

Gerade in diesen Zeiten sind Kultur und Film aufgerufen, differenzierte Erzählungen zu liefern, die Klischees auflösen, statt sie zu reproduzieren oder Vorbehalte gar zu verstärken. Ein Anspruch, den das im Vorkriegsjahr 2021 in Cannes mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnete Zug-Roadmovie mit traumwandlerischer Sicherheit erfüllt.

Züge transportieren in andere Lebenszustände

„Snowpiercer“, „Mord im Orientexpress“, „Darjeeling Limited“, „Zugvögel ... Einmal nach Inari“, um nur ein paar Titel zu nennen: Filme, die auf Schienen spielen, haben immer Kammerspiel-Anteile. Der Zug mit seinen Gängen und Abteilen ist ein transitorischer Ort, der die Menschen nicht nur von A nach B, sondern auch von einem Lebenszustand in den nächsten transportiert.

Zugfahren bedeutet Freiheit und Veränderung. Es schafft aber auch Unsicherheit und Klaustrophobie bei Individuen, die isoliert von der Welt im Technikpanzer durch die Landschaft rauschen. Künstlich bewegt und doch in Stagnation verharrend. In Gedanken noch viel mehr dem Abfahrtsort als dem Ziel verhaftet.

Und noch dazu den fremden Abteilgenossen ausgeliefert, mit denen sie plötzlich auch nachts die Intimität weniger Quadratmeter teilen.

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["Abteil Nr. 6" läuft in 12 Berliner Kinos.]

Diese gemischten Eisenbahn-Gefühle finden sich auch in „Abteil Nr. 6“. Die naturalistische Kamera (J-P Passi) schönt weder die räumliche Enge noch das Geschaukel der Waggons.

Details wie die Kassette mit Bandsalat, der Walkman, Münztelefone zeigen an, dass die finnische Archäologiestudentin Laura Anfang der neunziger Jahre von Moskau nach Murmansk fährt. Der alte Sowjetmief hängt noch im Abteil. Draußen stieben immer neue Schneestürme vorbei.

Und Lauras Mitreisender Ljoha entpuppt sich anfangs als Ausgeburt der Reisendenhölle. Der von Yuriy Borisov zugleich dickfellig und dünnhäutig verkörperte Bergarbeiter säuft, qualmt, pöbelt und mampft abwechselnd saure Gurken und dicke, fettige Würste.

Abteilgenossen. Studentin Laura (Seidi Haarla) und Arbeiter Ljoha (Yuriy Borisov) freunden sich an.
Abteilgenossen. Studentin Laura (Seidi Haarla) und Arbeiter Ljoha (Yuriy Borisov) freunden sich an.

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Laura, die die Reise zu den berühmten, jahrtausendealten Petroglyphen am Polarmeer eigentlich mit ihrer Flamme unternehmen wollte, ist super genervt. Dass die schicke Moskauerin Irina die unbeholfen wirkende Archäologiestudentin insgeheim längst abserviert und in den Zug abgeschoben hat, dringt erst nach etlichen Telefonaten in ihr Bewusstsein.

„Nicht auf den Boden spucken und die Toilette nicht einsauen“, empfiehlt die rustikale Schaffnerin den mangels freier Schlafplätze aneinandergeketteten Reisegefährten.

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Als die von Seidi Haarla schonungslos verquollen dargestellte Laura ihre Fluchtbewegungen einstellt und ihr Alleinsein in der Situation akzeptiert, hat sich Ljoha längst beruhigt. Ja, mehr noch, er entpuppt sich zu Lauras Überraschung als guter Mensch. „Scheiß die Wand an“, entfährt es Ljoha als Laura ihm im Speisewagen den Grund für ihre Reise durch die Winterkälte enthüllt.

„Wenn wir die Vergangenheit kennen, können wir die Gegenwart besser verstehen“, schulmeistert sie ihn. Von dem riesigen Bergbaukombinat, in dem er in Murmansk arbeitet, hat sie jedoch genauso wenig gehört wie er von den Petroglyphen.

Ein bisschen kann, nichts muss

Das hindert die angehende Akademikerin, die so gar nicht mit ihren in aller Zögerlichkeit angestrebten Zielen in Einklang steht, aber nicht daran, sich auf den Arbeiter einzulassen. Nicht in der handelsüblichen Form einer unmöglichen Romanze, sondern als ein von Juho Kuosmanen feinnervig, komisch und rührend entfalteter Möglichkeitsraum gegenseitiger Akzeptanz. Ein bisschen kann, nichts muss.

So geht das Schritt für Schritt voran mit der spröden Annäherung zweier Menschen, die nur ein vages Bedürfnis nach Nähe und ein Sinn für das Ergreifen des Moments verbindet. Beispielsweise als Ljoha bei einem nächtlichen Stopp des Zuges Laura überredet, seine muntere Oma in ihrer schäbigen Kate zu besuchen.

War's das? Das war's! Ljoha (Yuriy Borisov) und Laura (Seidi Haarla) haben's ans Polarmeer geschafft.
War's das? Das war's! Ljoha (Yuriy Borisov) und Laura (Seidi Haarla) haben's ans Polarmeer geschafft.

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Dass sich ausgerechnet der softe Finne mit der Klampfe, dem Laura im Abteil Obdach bietet, um Ljoha auf Distanz zu halten, als Dieb erweist, ist die einzige wohlfeile Eindeutigkeit, die Kuosmanen, der mit dem Crowdpleaser „Der glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki“ auf sich aufmerksam machte, unterläuft.
Als Laura schließlich in Murmansk eintrifft, wird Ljoha, der dem Zuviel an Nähe nervös entflohen war, zum energischen Freund, der das bei Schnee und Sturm eigentlich unmögliche Unterfangen möglich macht, zu den Felsmalereien vorzudringen. „War’s das?“, fragt er, als sie mit verfrorenen Gesichtern suchend am Ziel umherstapfen. „Das war’s“, antwortet Laura. Und plötzlich können den beiden weder Kälte noch Lebensschwere mehr etwas anhaben.

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