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Überraschungssiegerin. Die rumänische Regisseurin Adina Pintilie mit dem Goldenen Bären für "Touch Me Not".

© AFP / Tobias SCHWARZ

Die Bilanz der Berlinale 2018: Starke Frauen und verblüffende Juryentscheidungen

Die Qualität des Wettbewerbs war insgesamt gut, der Goldene Bär für „Touch Me Not“ ist ein klares Statement der Jury. Eine Festivalbilanz.

Von Andreas Busche

Eines war diese Berlinale sicher nicht: langweilig. Schon die Befürchtung klingt ja ein wenig nach der professionellen Deformation eines Festivalbesuchers, der den Großteil seiner Tage im Rhythmus des Berlinalebetriebs verbringt. Aber man braucht nur mal zu versuchen, sich an die ersten Tage zu erinnern: Ist es tatsächlich schon bald zwei Wochen her, dass in einer Petition dazu aufgefordert wurde, als Zeichen gegen Sexismus und Missbrauch den roten Teppich schwarz zu färben? Auch die Aufregung um die Einladung des koreanischen Regisseurs Kim Ki-duk war bald wieder vergessen. Es ist, als ob die Zeit aussetzt in der Berlinale-Bubble.

Alles andere als langweilig war in diesem Jahr auch der Wettbewerb. Natürlich gab es mit Gus Van Sants „Don’t Worry, He Won’t Get Far on Foot“ oder dem Romy-Schneider-Porträt „3 Tage in Quiberon“ von Emily Atef gehobenes Arthouse-Kino der zuschauerfreundlichen Sorte. Aber das sind nicht die Filme, die in Erinnerung bleiben. Insofern steht der Gewinner des Goldenen Bären, Adina Pintilies Erstlingsfilm „Touch Me Not“, exemplarisch für den Wettbewerb 2018, der in ästhetischer Hinsicht eine erstaunliche Bandbreite aufwies und das Publikum auch spaltete. An dem iranischen Beitrag „Khook“ von Mani Haghighi, der schwedischen Gesellschaftssatire „The Real Estate“ und an Philip Grönings monströser Meditation über Zeit und das Ende der Jugend „Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot“ schieden sich die Geister. Und Lav Diaz, der mit seinem vierstündigen Oral-History–Musical „Season of the Devil“ leider leer ausging, spielt ohnehin in seiner eigenen Liga.

Pintilie überschreitet Schamgrenzen, ohne auf Provokation zu zielen

Aber niemand war auf den rumänischem Wettbewerbsfilm „Touch Me Not“ vorbereitet, der mit seiner direkten Ansprache und einer stilisierten, fast laborhaften Inszenierung die Belastbarkeit des Publikums austestet. Pintilie vermischt in ihrem Debüt Spiel-, Dokumentar- und Essayformen und hinterfragt auf formal konsequente Weise die Grenzen der Intimität und unser Verhältnis zum eigenen Körper. Einer von Pintilies Protagonisten, Christian Bayerlein, der mit einer Muskelatrophie lebt, erzählt, wie sehr ihn die Formulierung störe, er „leide“ an seinem Handicap. Er bezeichnet sich eher als Connaisseur der „Kunst des Sex“. Der Film begleitet ihn in einen Swingerclub. Laura, der die Berührungen anderer Menschen körperliche Schmerzen bereiten, beobachtet Callboys beim Masturbieren und trifft sich mit der Trans-Sexarbeiterin Hanna. Pintilies Bilder überschreiten Schamgrenzen, ohne auf Provokation abzuzielen: ein eindrucksvolles Statement gegen die gesellschaftlichen Vorstellungen von körperlichen und sexuellen Normen.

Einem Film wie „Touch Me Not“ den Goldenen Bären zu verleihen, darf man als Ansage der Wettbewerbsjury unter Tom Tykwer verstehen. Ausgerechnet Tykwer, möchte man ergänzen, der sozusagen ein Patent auf gutes geöltes Erzählkino besitzt. „Touch Me Not“ ist die Antithese dazu, gelegentlich bedient er sich zwar prätentiöser, dokumentarischer Stilmittel, etwa die Sichtbarmachung der Kamera-Apparatur in den Interviews oder die artifizielle Atmosphäre.

Aber die Entscheidung steht der Berlinale gut zu Gesicht. Die Auszeichnung wird dem kleinen Außenseiterfilm die Aufmerksamkeit verschaffen, die er verdient. Mit einem Blick aufs Populäre erhielt dagegen Wes Anderson den Silbernen Bären für die Regie seines Stop-Motion-Films „Isle of Dogs“. Eine salomonische Lösung.

Franz Rogowski ging leider leer aus

Überhaupt überzeugten die stärksten der 19 Wettbewerbsbeiträge durch eine klare Bildsprache. Christian Petzolds „Transit“ und das Schriftstellerporträt „Dovlatov“ von Alexey German Jr. suchten – wie auch Lav Diaz mit „Season of the Devil“ – in der Geschichte Anschlüsse an die Gegenwart, das Besondere an diesem derzeit etwas überstrapazierten Ansatz ist dabei, wie die Filme ihren eigenen ästhetischen Zugang zu ihrer Epoche finden, ohne die Konventionen des Geschichtskinos zu bemühen. Daher muss man sich über den Silbernen Bären für die Kostüme und das Setdesign von „Dovlatov“ etwas wundern. Germans Film ist das Gegenteil von Ausstattungskino. Zwar konzentriert er sich auf einen kurzen Abschnitt im Leben des mit einem Berufsverbot belegten russischen Schriftstellers Sergei Dovlatov, verfällt darüber aber nicht in Larmoyanz. Die farbentsättigten, lakonisch anmutenden Bilder unterstützen bloß die resignative Nüchternheit von Germans Zeitporträt.

Christian Petzold wählt in „Transit“ den umgekehrten Ansatz. Er verlegt Anna Seghers’ Exilroman ins heutige Marseille, was zu irritierenden Asynchronitäten führt, wenn zum Beispiel Schutztruppen durch die Straßen patrouillieren und man sich nicht mehr sicher sein kann, ob der Film zur Zeit der deutschen Besatzung oder während eines Terroranschlags in der Gegenwart spielt. Dass Petzolds Film von der Jury nicht berücksichtigt wurde, ist enttäuschend. Unter den vier deutschen Wettbewerbsbeiträgen ist er mit Abstand der stärkste und eigenwilligste. Franz Rogowski, der als europäischer Shooting Star ausgezeichnet worden ist, hätte man den Silbernen Bären für den besten Darsteller gewünscht. Die Auszeichnung ging jedoch an Anthony Bajon für Cédric Kahns Jugenddrama „La prière“.

Fehlt der Berlinale ein Großkaliber?

Die stille Emanzipationsgeschichte „Las Herederas“ von Marcelo Martinessi ist die Entdeckung dieses Festivals. Der paraguayische Regisseur wird für sein Frauenporträt mit dem Alfred-Bauer-Preis belohnt. „Las Herederas“ zeichnet das distanzierte Bild eines Landes im Wandel und macht die Entfremdung der Protagonistin Chela spürbar. Die hat mit der extrovertierten Chiquita ihr Erbe durchgebracht, nun muss lernen, auf eigenen Füßen zu stehen. Hauptdarstellerin Ana Brun in ihrer ersten Kinorolle dabei zu beobachten, wie sie ihre Figur langsam zum Leben hin öffnet, war ein Höhepunkt im Wettbewerb. Dafür gewinnt sie den Silbernen Bären. Zu großer Form läuft auch die polnische Regisseurin Małgorzata Szumowska auf, die für „Twarz“ mit dem Preis der Jury ausgezeichnet wird. Ihr Provinzsatire über einen Heavy-Metal-Fan, der sich mit der katholischen Kirche anlegt, verfügt über ein perfektes komödiantisches Timing.

Der Jahrgang 2018 taugt gut für eine Standortbestimmung – in Konkurrenz zu den anderen großen europäischen Festivals in Cannes und Venedig. Die Qualität des Wettbewerbs war insgesamt gut, mit einigen herausragenden Filmen, aber ohne wirkliche Überflieger. Man kann darüber streiten, ob der Berlinale nicht ein Großkaliber wie Ruben Östlunds Palmen-Gewinner „The Square“ fehlt, der seit Cannes einen enormen Buzz generierte. Aufmerksamkeit ist eine Währung, mit der Festivals punkten müssen. Aber sie kann auf Dauer auch Taubheit erzeugen.

Vielleicht wäre es im Moment klug, wenn sich die Berlinale mit den Realitäten arrangiert und sich auf ihre Stärken besinnt. Cannes hat unter Thierry Frémaux eine enge Beziehung zu den Größen des Weltkinos etabliert, Hollywood benutzt Venedig aus Termingründen als Startrampe für die Oscar-Saison. Die Berlinale hat dagegen die Möglichkeit, kommerziell schwer skalierbaren Filmen wie „Touch Me Not“ oder im vergangen Jahr Ildikó Enyedis „Körper und Seele“ eine Öffentlichkeit zu verschaffen. Und nicht nur das. Jetzt haben zweimal nacheinander Regisseurinnen den Goldenen Bären gewonnen, der fünfte für eine Frau in der Geschichte der Berlinale. Insgesamt gingen sieben von zwölf Hauptpreisen an Frauen. So behauptet die Berlinale ihre Sonderstellung.

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