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Lorenzo Viotti am Donnerstag in der Berliner Philharmonie.

© Stephan Rabold

Die Berliner Philharmoniker mit Mahlers Dritter: Eine Reise durch die Schöpfung

Denn alle Lust will Ewigkeit: Die Berliner Philharmoniker mit der dritten Symphonie von Gustav Mahler - und Einspringer Lorenzo Viotti am Pult.

Natürlich sind solche Einschätzungen immer subjektiv, trotzdem dürften nur wenige abstreiten, dass Lorenzo Viotti einer der bestaussehenden Dirigenten unserer Tage ist. Wie der 29-jährige feierlich und zugleich in sich gekehrt ans Pult der Philharmonie schreitet, schlank, hochgewachsen, mit der Anmutung eines antiken Helden, da scheint er sich ganz bewusst zu sein, was dieser Augenblick für ihn bedeutet: Es ist sein Debüt bei den Berliner Philharmonikern, als kurzfristiger Einspringer für Yannick Nézet-Séguin. Eine nahezu klassizistische Eleganz und Kontrolliertheit trägt Viotti zur Schau. Der bleibt er auch beim einzigen Werk des Abends treu, Gustav Mahlers maßstabssprengender dritten Symphonie.
Allein, Mahler kommt man mit Höflichkeit und Eleganz nicht bei. Er registrierte mit wachem Sensorium die Verwerfungen und Fragmentierungen seiner Zeit, der vorletzten Jahrhundertwende, die verzweifelt am Traditionellen festhält und doch Kraftströme entwickelt, die im Weltkrieg explodieren. Der Trost und die Stärke, die Bruckner noch im Katholizismus fand, stehen ihm nicht mehr zur Verfügung. Für einen Dirigenten, für ein Orchester gilt es, das anzuschärfen.

Man spürt den Vulkan unter den Füßen nicht

Viotti jedoch scheut den Blick in die Abgründe, die auch in der Dritten zahlreich lauern – obwohl sie noch zu den optimistischeren Werken in Mahlers Œuvre zählt: als nietzscheanisch inspirierte tönende Reise durch die Schöpfung, vom Erwachen der Natur im monumentalen ersten Satz über den Eintritt des Menschen in Gestalt der Altsolistin, der Damen des Rundfunkchors Berlin und der Knaben des Staats- und Domchors bis hin zum Kosmischen (oder doch Göttlichen?) im schwebenden Adagio des Finalsatzes. Ja, auch Viotti weiß Grelles, Fratzenhaftes, derbe Tanz-Taktarten herauszupräparieren. Aber das fügt sich alles ein in eine überwölbende Freundlichkeit, mit der die Philharmoniker wenig anzufangen wissen. Über 100 Minuten Musik, und doch seltsam unverbindlich und abgedichtet gegen alles, was verstören könnte. Man spürt den Vulkan unter den Füßen nicht.
Trotzdem tauchen immer wieder berührende Klangmomente auf, so das entrückt schöne Posthorn-Solo von Guillaume Jehl, ein verzweifelt-verlorener Kontrapunkt zum geisterhaften Tanz der Motive im Scherzo. Konzertmeister Daishin Kashimoto sendet lyrische Einwürfe der Violine in den Saal, Elīna Garanča bleibt für die ersten Takte von Zarathustras Mitternachtslied („Denn alle Lust will Ewigkeit“) sitzen, verschwindet im Orchester, der interessante Effekt: Ihre Stimme scheint aus dem Nirgendwo zu kommen. Viel Engagement, und doch geht man mit der Erkenntnis nach Hause: Ohne Wissen um den Schrecken gibt es keine Schönheit in der Musik.

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