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Geschönter Blick. Der Berlinale-Direktor Alfred Bauer holt die Schauspielerin Shirley MacLaine 1971 am Flughafen Tempelhof ab.

© picture alliance / Sammlung Rich

Die Berlinale und der Fall Alfred Bauer: Historiker Wirsching: Die Kulturbranche ist bei der NS-Aufarbeitung spät dran

Der Leiter des Instituts für Zeitschichte, Andreas Wirsching, über die NS-Belastung des Berlinale-Gründungsdirektors Alfred Bauer und das Entschuldungsnarrativ von der Autonomie der Künste

Andreas Wirsching, Jahrgang 1959, leitet seit 2011 das Münchner Institut für Zeitgeschichte und lehrt Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität. Das Institut erstellte für die Berlinale eine 60-seitige Studie zu Alfred Bauer, dem ersten Direktor des Festivals, und bestätigte Recherchen der „Zeit“, denen zufolge Bauer ein hoher NS-Filmfunktionär war. Das IfZ erstellt traditionell Gutachten für Politik, Behörden und Zivilgesellschaft. Unter ihnen befinden sich regelmäßig große Gutachten wie über die NPD bei deren Verbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht sowie eine Machbarkeitsstudie für das jüngst gegründete Karlsruher „Forum Recht“ oder eine Studie für das Auswärtige Amt über die Widerstandskämpferin Ilse Stöbe.

Herr Wirsching, wie kann es sein, dass bis Anfang des Jahres so wenig über die Tätigkeit des Berlinale-Gründungsdirektors Alfred Bauer in der Reichsfilmintendanz bekannt war?

Über Bauer war mehr bekannt, als kommuniziert wurde. Es beginnt schon mit seinem Entnazifizierungsverfahren, bei dem er nicht hundertprozentig mit seiner Version der Geschichte überzeugen konnte. Aber es ist typisch für die Nachkriegszeit bis in die 60er Jahre hinein teils auch länger: Man ahnte viel, wusste manches, es wurde jedoch nicht öffentlich Thema. Zum Beispiel das viel zitierte Persönlichkeitsgutachten der Gauleitung Mainfranken…

 … das Bauer bescheingte, ein „eifriger SA-Mann“ zu sein.

Das Gutachten ist schon 1973 zitiert worden, in einer Fußnote in einer wissenschaftlichen Arbeit. Die Informationen lagen bereit.

 Die Studie ordnet Bauer der „Generation der Unbedingten“ zu, mit den Jahrgängen 1900 bis 1912. Was zeichnet diese Generation aus?

Der Begriff stammt von Michael Wildt. Sie  war Teil der sogenannten Kriegsjugendgeneration, sozialisiert an der Heimatfront des Ersten Weltkriegs, einer vaterlosen Gesellschaft. Diese Generation war bei den NS-Tätern und vor allem den Ideologen des NS-Regimes überproportional vertreten: junge Männer, die 1933 ihre Karriere starteten, Akademiker, die sich durch den Willen auszeichneten, das völkische Gesellschaftsmodell mit allen Mitteln durchzusetzen.

Warum interessierte sich keiner für die Historiker-Erkenntnisse über Bauer?

Die Causa Alfred Bauer ist kein Einzelfall, vieles ist dem Zeitgeist geschuldet, auch dem Generationenwandel. Wer mit ihm zusammengearbeitet hatte oder von ihm gefördert wurde, war generationell befangen. Das gibt es nicht nur bei Kulturschaffenden, sondern auch in der Verwaltung, der Justiz oder der Wirtschaft. In letzter Zeit beobachten wir einen starken Trend, diese Themen neu zu spielen, über 70 Jahre nach Kriegsende.

In den Berlinale-Chroniken ist in der Randspalte zu lesen, dass Bauer in der Reichsfilmkammer tätig war, das war’s. Welche Versäumnisse sind den Filmhistorikern vorzuhalten, der Stiftung Deutsche Kinemathek, die eine Bauer-Monografie zurückgezogen hat? 

Festivalchroniken und kritische Geschichtswissenschaft sind nicht das Gleiche. Ich kenne die zurückgezogene Bauer-Monografie nicht, aber nach allem, was ich gelesen habe, muss sich die Stiftung Deutsche Kinemathek  hier schon zu Recht kritische Fragen gefallen lassen. Die Selbsterzählung der Kulturakteure wirkt offenbar sehr stark. Die Entschuldungsnarrative lauteten: Es war die Partei, die das Verbrecherische des Regimes ausmachte. Man war vielleicht ein bisschen Mitglied und hat ansonsten „nur“ seine Arbeit verrichtet. Eine Lebenslüge, wie selbst Leni Riefenstahl sie verbreitete. Mit Filmen wie „Triumph des Willens“ oder „Olympia“ trug sie erheblich zur NS-Propagandamaschinerie bei, aber nach 1945 stellte sie dies in ihrem Selbstverständnis als rein fachliche, sachliche, unpolitische Tätigkeit dar, bis zu ihrem Tod .

Die NS-Filmemacherin Leni Riefenstahl während der Dreharbeiten zu "Olympia" 1936 in Berlin.
Die NS-Filmemacherin Leni Riefenstahl während der Dreharbeiten zu "Olympia" 1936 in Berlin.

© AFP

Inzwischen schauen wir anders darauf.

Bei der Frage, wie belastet jemand ist, sind wir heute wesentlich kritischer. Was ist nicht mehr tolerabel? Die Maßstäbe haben sich verschoben. Ein Stück weit ist das ein verständlicher Vorgang, denn die Bevölkerung konnte 1945 ja nicht ausgetauscht werden. Viele Kulturschaffenden waren im Exil, beim Neuaufbau musste man auf diejenigen zurückgreifen, die in der NS-Zeit vor oder hinter der Kamera gestanden hatten. Nehmen Sie den skandalösen Fall des „Jud Süß“-Regisseurs Veit Harlan, der nach dem Krieg weiterarbeitete, als sei nichts geschehen. Erst das berühmte Lüth-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1958 setzte hier eine Grenze.  In diesem Kontext muss man Alfred Bauer sehen. Wobei er nach dem Krieg besonders dreist geschönt hat, wie Tobias Hof in unserer Studie belegt.

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Er sei „der einzige bewusst gegen den Strom schwimmende Antifaschist in der damaligen Filmführung“ gewesen, sagte Bauer. Zitiert wird auch der Schauspieler Hans Nielsen, der zu Bauers Entlastung sagte, künstlerische Menschen seien jedem Militarismus abhold. Ein hartnäckiges Denkmuster.

Das Argument der Autonomie der Kunst konnte lange überzeugen. Aber in vielen Kunsterzeugnissen jener Zeit tauchen der Militarismus ebenso auf wie der völkische Gedanke, mindestens implizit auch Rassismus und Antisemitismus. Wer sich an prominenter Stelle in die Wirkungsmaschinerie des Nationalsozialismus hineinbegab, der handelte auf Grundlage jener gewaltsamen Exklusion, wie die nationalsozialistische Mehrheitsgesellschaft sie betrieb. Egal, ob er hineingesogen wurde oder sich aus eigener Intention beteiligte. Das trifft auf Leni Riefenstahl genauso zu wie auf Herbert von Karajan oder Gustaf Gründgens.

Über solche Namen wird oft heftig gestritten.

War Gründgens ein Goebbels-Gegner oder Görings Schützling? Leistete er mit seinen Inszenierungen eine Art Widerstand? Darüber wurde ein regelrechter Glaubenskrieg geführt, aber auf keinen Fall kann man sagen, er habe als Intendant des Berliner Schauspielhauses nichts mit dem NS-Regime zu tun gehabt. Gleichzeitig muss immer der Einzelfall beurteilt werden, man darf nicht post festum eine neue Kollektivschuld konstatieren. Dass die Maßstäbe sich verschoben haben, findet sich auch in anderen Bereichen. So wird etwa seit 2013 der Theodor-Eschenburg-Preis nicht mehr verliehen, da der Nimbus des Politikwissenschaftlers als großer Erzieher zur Demokratie wegen neuer Erkenntnisse über sein zweifelhaftes Verhalten in der NS-Zeit angekratzt war.

Warum häuften sich in letzter Zeit die Enthüllungen über die NS-Belastung der Kulturszene?

Geschönter Blick. Der Berlinale-Direktor Alfred Bauer holt die Schauspielerin Shirley MacLaine 1971 am Flughafen Tempelhof ab.
Geschönter Blick. Der Berlinale-Direktor Alfred Bauer holt die Schauspielerin Shirley MacLaine 1971 am Flughafen Tempelhof ab.

© picture alliance / Sammlung Rich

Emil Nolde, Werner Haftmann und die Documenta-Anfänge, Alfred Bauer und die Berlinale: Warum haben sich solche Enthüllungen in der Kultur gerade in jüngster Zeit gehäuft?

Vieles war wie gesagt bekannt. Aber es wird jetzt systematischer gefragt und breiter kommuniziert. Was die NS-Belastungen betrifft, gibt es einen Nachholbedarf bei der Kultur. Viele Wirtschaftskonzerne sind da weiter, schon weil sie sich als Exportunternehmen in der Pflicht sehen; in jüngerer Zeit haben etwa die Familie Quandt oder Dr. Oetker ihre Geschichte aufgearbeitet. Es folgten politische Institutionen wie das Auswärtige Amt und nach einem Kabinettsbeschluss im Jahre 2013 praktisch alle Bundesministerien. Die Künste sind so spät dran, weil sie das stärkste Selbstnarrativ haben. Sie gelten eben als apolitisch oder wenn schon politisch, dann als aufklärerisch. Vielleicht beherrschen Künstler das Stilmittel der Ambivalenz besonders gut, um unangenehmen Fragen auszuweichen. Künstler, auch Schriftsteller sind da gewissermaßen Profis, Günter Grass ist ein Beispiel.

Grass erzählte erst im hohen Alter, er habe mit 17 der Waffen-SS angehört, sei aber nur am Nachladen und nicht am Schießen beteiligt gewesen.

Jeder Mensch neigt dazu, seine Biografie bei Einschnitten wie die der NS-Zeit umzuschreiben. Aber seit zwanzig, dreißig Jahren erlebt die Zeitgeschichte da einen enormen Nachfrageschub, Neue Quellen wurden zugänglich gemacht, auch Personalakten. Die Kultur hinkt hinterher, aber auch hier hat sich die Nachfrage verstärkt, seitens der Kommunen zum Beispiel, die ihre lokalen Helden oder auch Straßennamensgeber unter die Lupe nehmen.

 Das Selbstnarrativ ist das eine, aber wieso haben auch Kulturhistoriker nicht genauer hingeschaut?

Es gibt längst fachwissenschaftliche Literatur, wichtige Publikationen über Film und Herrschaft im NS-Regime. Man sollte vorsichtig sein und nicht pauschal von Versäumnissen reden. Auch Historiker reagieren auf neue Fragen, lassen sich in neuen Kontexten zu neuen Untersuchungen anregen. In der Filmgeschichte war es lange vorrangig, die NS-Propagandafilme zu erforschen.  Das Personal stand nicht im Vordergrund, erst recht nicht die Funktionäre in der zweiten Reihe. Auch in meiner eigenen Disziplin, der Geschichtswissenschaft, kam es mit dem Frankfurter Historikertag 1998 erst spät und geradezu eruptiv zu einem Bewusstseinswandel.

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Die Bauer-Studie ist eine Vorstudie, wegen der Kürze der Zeit. Von Forschungslücken ist die Rede, wie können sie behoben werden?

Zur Person Alfred Bauers im engen Sinne wird es schwierig sein, noch weitere Details zu erforschen.  Klar ist, er war kein Rädchen, sondern ein Rad im Getriebe. Es lohnt sich aber, die Reichsfilmintendanz mit ihrem Alltagsgeschäft der Zulassung und Verwaltung von Filmproduktionen in den Fokus zu nehmen, ebenso die Netzwerke der Filmwirtschaft, die nach 1945 weiterwirkten.

Andreas Wirsching leitet seit 2011 das Münchner Institut für Zeitgeschichte und lehrt an der dortigen Ludwig-Maximilians-Universität.
Andreas Wirsching leitet seit 2011 das Münchner Institut für Zeitgeschichte und lehrt an der dortigen Ludwig-Maximilians-Universität.

© IfZ

Wer sollte das in Auftrag geben und finanzieren?

Eine Institution wie die Berlinale ist keine Forschungsförderungseinrichtung. Eine Anschlussstudie könnte aber von den Geldgebern des Festivals beauftragt werden, das heißt vor allem von der Kulturstaatsministerin. Es genügt nicht, auf freie Impulse aus der Wissenschaft zu warten. Natürlich gibt es solche Impulse, wie ein Beispiel aus unserer Institutsarbeit zeigt: Angeregt durch die aktuellen Diskussionen promoviert hier eine junge Wissenschaftlerin über den Expressionismus und seine Ambivalenzen. Andere Forschungen weisen auf Galeristen und Kunsthistoriker in der NS-Zeit hin, die ins Zwielicht geraten sind. Aber für eine breite Aufarbeitung braucht es einen politischen Willen. Dann könnten Projekte zu solchen NS-Kultur-Fragen in Auftrag gegeben oder ausgeschrieben werden. Für die politischen Institutionen des Bundes ist das vor ein paar Jahren bereits geschehen, es wäre gut, das Gleiche für die Kultureinrichtungen des Bundes zu tun.

Also der Ruf nach dem Staat?

Die Institutionen können selber aktiv werden, finanzieren müssten es die Zuwendungsgeber. Forschung darf nicht vom Auftraggeber abhängig sein; der volle, allgemeine Quellenzugang und die volle Publizität müssen gewährleistet sein. Wir haben damit inzwischen gute Erfahrungen. Nur wenn Distanz garantiert ist, wenn es keine Befangenheiten gibt, können wir zu neuen Ergebnissen kommen. Das ist heute der Fall. 

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