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Lebenswege, Gipfelstürme. Juliette Binoche spielt in „Sils Maria“ von Olivier Assayas die Schauspielerin Maria, die vor der Herausforderung steht, mit ihrer eigenen Jugend rivalisieren zu müssen.

© Festival Cannes

Die 67. Filmfestspiele in Cannes: Europa, deine Bilder

Heute gibt’s die Palmen: Zum Finale der großen französischen Filmfestspiele, mit Werken von Olivier Assayas und Ken Loach.

Es gibt wohl keinen höher gelegenen Ort für die europäische Hochkultur als Sils Maria, 1800 Meter über dem Meeresspiegel im Oberengadin gelegen, zwischen Silser- und Silvaplanersee. Friedrich Nietzsche verbrachte hier sieben Sommer in den achtziger Jahren des vorvergangenen Jahrhunderts, und auf seinen Spuren pilgerten Thomas Mann und Rainer Maria Rilke, Marcel Proust, Jean Cocteau und Gottfried Benn hinauf in jene Welt, in der Nietzsche seinen Zarathustra schuf.

Wenn der französische Regisseur Olivier Assayas nun seinen neuen Film, den letzten Beitrag im Cannes-Wettbewerb 2014, nach jenem mythischen Ort benennt, so ist das kein Zufall, auch wenn er die geläufigen Großbezüge mit keinem Wort erwähnt. Vielmehr erschafft er hier, in splendider Entlegenheit, eine eigene geistige Weihestätte, die er umwerfend zeitgemäß mit unserer Gegenwartskultur vereint. Ein berühmter Theaterautor ist soeben in Sils Maria gestorben. Eines seiner Stücke, „Malojaschlange“ – benannt nach einem in jener schweizerischen Bergregion häufigen Wolkenphänomen – , soll nach Jahrzehnten in London erneut aufgeführt werden. Eine Frauen- und Generationentragödie, in der eine kaum Zwanzigjährige ihre doppelt so alte Chefin in den Selbstmord treibt.

Der Clou von „Sils Maria“: Die Schauspielerin Maria, die damals mit ihrer Rolle als blutjunge Sigrid berühmt wurde, soll nun die ältere Helena spielen. Widerstrebend nimmt sie die Herausforderung an und reist mit ihrer jungen Assistentin Valentine in das Berghaus des Dichters, um dort den Text zu lernen. Zwischen den beiden entwickelt sich subtil jenes Geflecht aus Anziehung und Rivalität, das auch das zu probende Stück grundiert. Juliette Binoche spielt, scheinbar zart, die am liebsten in ihren eigenen Wolken schwebende Maria, Kristen Stewart gibt die äußerlich taffe Valentine, cool geerdet in der „realen Welt“ des Internet-Gossip, der Paparazzi, der drittklassigen, aber bereits weltberühmten Teenie-Stars. Erst Valentines Kommunikationsgeschick ist es, das Maria mit der neuen Sigrid (Chloe Grace Moretz) zusammenbringt. Bis zum Theater-, pardon: zum Kino-Coup.

Eine hochintelligentes, extrem unterhaltsames, mal bergmaneskes, mal eher rohmereskes Oszillieren zwischen Leben und Spiel prägt „Sils Maria“, ein spannendes Pendeln zwischen Person und Persona, Anonymität und Ausgestelltheit, Jugend und Alter – und mit stets präzis nüchternem, niemals denunzierendem Blick für den Alltag heutiger Celebrities. Welch ein Unterschied zur trivialen Parodie der ausgemusterten Hollywood-Aktrice, in die der Kanadier David Cronenberg in „Maps to the Stars“ Julianne Moore treibt! Schon nahezu vergessen ist jenes vor einer Woche im Wettbewerb präsentierte Pastiche, in dem auch John Cusack, Robert Pattinson und Mia Wasikowska traurige Hollywood-Abziehbilder geben müssen. Und zum in „Sils Maria“ so souverän entwickelten Thema intergenerationeller Verdoppelungen war dem Drehbuchautor Bruce Wagner bloß eine plakativ inzestuöse Geschwisterliebe eingefallen.

Europa - das ist der kulturelle Kontinent

Sollte das Filmfest Cannes, das am heutigen Sonnabend mit der Verleihung der Palmen zu Ende geht, in seinem 67. Jahrgang einmal mehr die Überlegenheit des europäischen Autorenkinos gegenüber den Filmemachern des amerikanischen Kontinents beweisen wollen? Keineswegs, zumal mit Tommy Lee Jones’ elegantem Historienstück aus den Pioniertagen im fernen Westen („The Homesman“) und mit „Mommy“, dem fünften Film des erst 25-jährigen Frankokanadiers Xavier Dolan, durchaus Eindrucksvolles eingeladen war. „Mommy“ wird, nicht nur weil sein selbstbewusster Regisseur das langsam an der Reihe findet, sogar als Palmen-Favorit gehandelt.

Tatsächlich fegt die stets etwas hysterische Energie Dolans manches andere keck beiseite – in dieser Geschichte einer überdrehten Mutter (Anne Dorval), ihres ADHS-gepeinigten halbwüchsigen Sohns (Antoine-Olivier Pilon) und einer depressiven, angesichts des wilden Duos vorsichtig aufblühenden Nachbarin (Suzanne Clément). Neben dem starken „Homesman“ aber wirkt „Mommy“ denn doch halbstark.

Nein, es ist keine weiter voranschreitende Kontinentaldrift, die diesen Jahrgang kennzeichnet. Sondern ein fühlbar neues Bewusstsein Europas für sich selbst – als kultureller Kontinent. Am offenkundigsten wird das in zwei Dokumentationen, die den Blick für den Wert unserer Weltgegend gerade angesichts des immer drohenderen Zivilisationsverlusts schärfen. In der Kurzfilm-Kompilation „Die Brücken von Sarajewo“ erzählen fünf Regisseurinnen und acht Regisseure, darunter Angela Schanelec und Sergej Loznitsa, von den verschorften Wunden des Ersten Weltkriegs bis zum blutigen Zerfall Jugoslawiens der neunziger Jahre. Und in „Maidan“ stellt der Ukrainer Loznitsa seine Kamera im Winter 2013/2014 bis zum jüngsten Gemetzel im Februar einfach auf den Platz in Kiew und zeigt das zusammen stehende, zusammen singende und – vor den Kugeln der Berkut-Einheiten – zusammen fliehende Volk. Bis es erneut, in Trauer, zusammen singt und zusammensteht.

Was für ein eindrucksvoller und zugleich minimalistischer Film! Nur sollten diese Bilder alter und junger Frauen, junger und alter Männer im Kampf gegen die korrupte Janukowitsch-Regierung nicht bloß einem gewogenen Festivalpublikum vorgeführt werden, sondern vor allem in der Ost-Ukraine zu sehen sein. Dort, wo die Separatisten den Rest des Landes als unter faschistischer Knute brandmarken. Und überall dort, wo Europäer mit demokratischen Mitteln ihren vereinten demokratischen Kontinent mal eben abschaffen wollen. „Maidan“ ist, als Widerstandszeugnis ganz ohne Interviews und Kommentar, das leise pochende Herz dieses Festivaljahrgangs – pünktlich zur ukrainischen Präsidentschafts- und zur Europawahl an diesem Wochenende.

Dieser Herzschlag ist in vielen Filmen zu spüren, mögen sie politisch oder weniger politisch sein, gelungen oder weniger gelungen. So wirkt Ken Loachs „Jimmy's Hall“ nicht so wuchtig wie sein vor acht Jahren mit der Goldenen Palme ausgezeichnetes Kriegsdrama „The Wind That Shakes the Barley“. Doch setzt der CannesDauergast hier seine Vision der irischen Geschichte nicht ebenso entschieden fort, nur etwas (alters-)milder?

Damals ging es um den Unabhängigkeitskrieg 1920, ein Dutzend Jahre später ist Irland immer noch zwischen Reich und Arm geteilt, und die katholische Kirche hält eisern zu den Reichen. Der einstige Kämpfer Jimmy (Barry Ward) kehrt heimwehkrank aus New York zurück, eröffnet von neuem seinen Tanzschuppen, der auch als ländliches Kulturzentrum ausgezeichnet funktioniert – und wird erneut vertrieben. Ein Scheitern, gewiss, aber eines, aus dem Loach sein Publikum nicht ohne Hoffnung entlässt.

Ungleich finsterer ist das Schlachtengemälde, das Michel Hazanavicius am äußersten anderen Rand des europäischen Kulturraums entwirft, in Tschetschenien 1999. Allerdings gerät dem Kritiker- und Publikumsliebling, der mit „The Artist“ vor drei Jahren Cannes eroberte und anschließend den Oscar gewann, das neue Werk trotz bester Absichten verblüffend holzschnittartig. Die idealistische Beauftragte des EU-Menschenrechtskomitees – Hazanavicius’ Ehefrau Bérénice Bejo spielt die Rolle zu schön, um wahr zu sein – nimmt ein neunjähriges Flüchtlingskind bei sich auf, und kurz vor der Pflegschaft kommt es zur tränenreichen Zusammenführung mit dessen älterer, ebenfalls geflohener Schwester. Gut und Böse sind in diesem überlangen Spielfilm stets messerscharf getrennt. Nur ein junger russischer Kiffer darf sich, in einer Parallelhandlung, nicht ganz überraschend vom gequälten Rekruten in eine Kampfmaschine verwandeln.

Aber gehört Tschetschenien eigentlich noch zu Europa – und das korrupte, wodka-unselige Russland, das Andrei Swaginzew in „Leviathan“ entwirft, in einem archaisch hoffnungsfernen Dorf an der arktischen Barentssee? Einstweilen wohl kaum. So bleibt diesem Kontinent vor allem, auf die Gemeinsamkeiten seiner kulturelle Werte zu setzen, wie es in Cannes etwa der Brite Mike Leigh („Mr. Turner“), der Franzose Bertrand Bonello („Saint Laurent“), die Italienerin Alice Rohrwacher („Le meraviglie“) und die belgischen Brüder Dardenne („Deux jours, une nuit“) eindrucksvoll unternehmen. Fast eine Demo. Sofern man das künstlerisch diesmal nicht gar so homogen glänzende Festival, über dessen Sieger nun die Jury unter Vorsitz der neuseeländischen Regisseurin Jane Campion entscheidet, ausnahmsweise bloß politisch nehmen wollte.

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