zum Hauptinhalt
Dichter Ulf Stolterfoht.

© dpa

Dichter gründet eigenen Verlag: Wir brauchen uns!

Dichter Ulf Stolterfoht will Autoren eine Heimat geben. Deshalb hat er seinen eigenen Verlag gegründet und unterläuft damit alle Marktgewohnheiten. Gedruckt wird, solange das Geld reicht. Ob das Konzept aufgeht?

„hört mir hier überhaupt noch jemand zu?“ ruft das Lyrische Ich in Ulf Stolterfohts soeben erschienenem Lyrik-Band „Neu Jerusalem“. Das Ich, das in diesem Langgedicht redet, imitiert einen Wanderprediger, der die Massen in diesen dekadenten Zeiten („die menschen beginnen, sich selbst zu lieben“) zu Umkehr und rechtem glauben mahnt. Ausgehend von der biblischen Offenbarung, wird mit allerlei sprachlichen Registern der Untergang der Welt und das Nahen eines göttlichen Reiches heraufbeschworen.

Ulf Stolterfoht, der Autor, ist in Stuttgart geboren, lebt seit Langem in Berlin und schreibt in eigenwilliger Nachfolge von Jandl, Pastior und anderen Sprachkünstlern. „Neu Jerusalem“ ist wie seine früheren Lyrik-Bände, die „Fachsprachen“, formstreng gebaut; sperrige, doch höchst vergnügliche Kost, melodischleicht dargeboten, von großer rhythmischer Schönheit. Schon immer arbeitet Stolterfoht in seiner Lyrik mit Fragmenten aus verschiedenen Wissensbereichen und Sprachschichten des Deutschen, um jenseits von „Inhaltismus“ die Sprache selbst zum Instrument zu machen, nicht um zu verstehen, sondern „um das Verstehen ein bisschen besser zu verstehen“, wie er sagt.

In „Neu-Jerusalem“ nun, das kürzlich im Verlag kookbooks erschien und den Werdegang einer Sekte beschreibt, versammelt und verhandelt der Autor auf knapp 90 Seiten Glaube, Hoffnung und Verheißung – vom Pietismus des ausgehenden 16. Jahrhunderts bis heute. Die charismatischen Hauptfiguren heißen Wagenblast, Mutter Johanna und Blutjesus. Gestalten wie die Hopfenzwerge Trastevere, Mösenfinger-Ludwig, die willigen Weiber von Wien und Heini vom BKA ergänzen das Bild. Mit großer Suggestionskraft („Ich bau mir in Lyrik das Ding, das mir taugt“) lässt Stolterfoht Stimmen, Visionen, Wunderheilungen und Erweckungserlebnisse aufeinanderprallen. Die Figur des Wagenblast erinnert dabei an Nicolaus Ludwig von Zinzendorf, den Begründer des Herrnhuter Ordens, der Anfang des 17. Jahrhunderts in seiner Missionstätigkeit bis nach Amerika gelangte. „macht euch bereit, ihr werdet starken glauben brauchen, sehr starken glauben!“ heißt es. Auch der Sektenselbstmord in Jonestown und säkulare Heilsbewegungen wie die Chicago Boys schwingen hinein; zudem gibt es Anklänge an Rockkonzerte und Hausbesetzerszenen. Das „Neu Jerusalem“ des schwäbischen Predigers liegt hier in Berlin, dem Sehnsuchtsort so vieler Jugendlicher aus Pietistenland.

Stolterfoht verfeinert Montage, Kompilation und Persiflage in „Neu Jerusalem“

Alltagssprachliches sorgt in Stolterfohts Lyrik für den besonderen Sound. Gedichte sind schließlich nicht aus Gefühlen, sondern aus Worten gemacht, und diese finden sich in Büchern, in TV-Sendungen, auf der Straße und auf Waldbühnen. Seine Arbeitsweise – Montage, Kompilation und Persiflage – hat Stolterfoht in „Neu Jerusalem“ weiter verfeinert. „so wahr ich hier schreibe“, schwört das Ich. Und schon weiß der Leser: Alles ist erfunden und doch aufs Köstlichste wahr. Hat man die Idee von der Aussage eines Gedichtes und von der Lesbarkeit der Welt erst hinter sich gelassen, beginnt ein Hören, in das man einfach eintauchen kann.

Bereits seit vielen Jahren betreibt Ulf Stolterfoht neben seiner Poesie intensiv den öffentlichen Dichter-Austausch: Er bringt zusammen, was sich zuhören und inspirieren könnte. Zur „sittlich-moralischen Unterstützung von Dichtern und deren Arbeit im Wortbergwerk“ schuf er gemeinsam mit anderen Ende der 1990er Jahre die „Lyrikknappschaft Schöneberg“, die allein durch ihr sprachliches Vorhandensein so manchem Poeten Schutz und Schirm gewährt. 2003 veröffentlichte er den Band „Elf Widerstandsnester“, darin u.a. Wort- und Bild-Beiträge von Paulus Böhmer, Oswalt Egger, Bert Papenfuss und Hans Thill. 2008 edierte er mit Christoph Buchwald das Jahrbuch der Lyrik. Und 2010 rief er TIMBER ins Leben, ein „Forum für kollektive Poetologie“ samt zweitägigem Poetentreffen im Berliner Literaturhaus.

Stolterfoht unterläuft mit Brüterich Press alle Marktgewohnheiten

In diesem Frühjahr nun hat Stolterfoht den Verlag Brüterich Press gegründet, um versprengt arbeitenden Kollegen auch in diesen verlegerisch schwierigen Zeiten eine Heimat zu bieten, wie es ehedem der Verlag Urs Engeler für ihn gewesen ist. „Es gilt, denen eine Chance zu geben, die sonst keine haben auf dem Markt“, sagt er. Denn: „Wir brauchen uns.“

Gedruckt wird alles, womit er sich gerne verbinden möchte. Und: Gedruckt wird, solange das Geld reicht. In seinem ersten Programm findet sich Poetologisches von Franz Josef Czernin, ferner surreal beeinflusste Verse von Hans Thill sowie der Band „Amben und Gnomen“ von Oswald Egger – ein lyrischer Versuch, über antike Formtradition und mathematische Kombinatorik. Angekündigt ist ein Essay von Monika Rinck sowie Gedichte des US-amerikanischen Lyrikers Cyrus Console.

Dabei unterläuft Stolterfoht mit Brüterich Press alle Marktgewohnheiten. Er liefert selber aus, jedes Buch kostet 20 Euro und man kann die Bücher als Serie auf der Verlags-Homepage abonnieren. „Schwierige Bücher zu einem sehr hohen Preis – dann ist es Brüterich Press“, heißt es dort lakonisch. Auf den weißgrundigen, fein gestalteten Umschlägen finden sich weder Ladenpreis, Autoren-Vita noch Pressezitat. Die Worte sollen für sich sprechen. Ob das Konzept aufgeht? Ob sich genügend Abonnenten finden, damit das Startkapital nicht versiegt? „Wir brauchen uns“, kommentiert Stolterfoht auch diese Frage.

Heute Abend um 20 Uhr liest Ulf Stolterfoht im Literarischen Colloquium aus „Neu Jerusalem“ und spricht mit der Schriftstellerin Monika Rinck – auch übers Verlegen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false