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Lockerungsübung. Werner Haftmann (links) und Arnold Bode 1964 bei der Eröffnung der Documenta 3. Der Kunsthistoriker Haftmann war nicht nur Mitglied von NSDAP und SA, sondern auch als Anführer einer militärischen Einheit im Zweiten Weltkrieg an Folterungen beteiligt.

© documenta archiv/Wolfgang Haut, FAZ

DHM-Austellung zur Documenta: Kunst und Kriminalfall

Eine Ausstellung im DHM zeigt, dass auch die Documenta eine braune Vergangenheit hat.

Weiß gekalkte Backsteinwände, davor auf einem kleinen Sockel Wilhelm Lehmbrucks Skulptur der „Großen Knienden“: So demütig und dennoch triumphierend wurde 1955 auf der ersten Documenta Kunst präsentiert. Die Bronzefigur, damals in der Rotunde des sichtlich kriegsbeschädigten Fridericianums platziert, ist nun im Deutschen Historischen Museum (DHM) zu sehen.

Sie steht für die Kunst der Moderne, die im Nationalsozialismus verfemt und verboten war, und in Kassel wie Phönix aus der Asche wiederauferstehen sollte. Die Documenta – das schien festzustehen – markierte einen Bruch mit der Vergangenheit und leistete einen Beitrag zur ästhetischen Re-Education der jungen Bundesrepublik. Doch diese Erzählung von einem radikalen Neuanfang lässt sich nicht länger halten.

Die Kontinuitäten zum Nationalsozialismus waren erstaunlich groß, das zeigt die Ausstellung „Documenta. Politik und Kunst“ im DHM, die dabei auf geradezu spektakuläre Quellenfunde zurückgreifen kann.

Die Schau versammelt 390 Exponate und ist selbst teilweise selbst opulent wie eine Kunstpräsentation inszeniert. Begrüßt werden die Besucher von einem wandfüllenden Foto des Chagall-Saals der ersten Documenta. Gegenüber: Werke von Picasso und eine Theodor-Heuss-Büste von Gerhard Marcks. „Mit Politik kann man keine Kultur machen; vielleicht kann man mit Kultur Politik machen“, hat der erste Bundespräsident gesagt. Er schmauchte eine Zigarre, als Documenta-Begründer Arnold Bode ihn durch die Räume führte.

1955 hatte die Bundesrepublik mit den Pariser Verträgen einen Großteil ihrer nationalen Souveränität zurückerlangt. Aus Kassel sollte ein kulturelles Signal in die Welt gehen, dass der westdeutsche Staat in der Demokratie angekommen sei.

Arnold Bode hatte als Sozialdemokrat 1933 seine Arbeit als Kunstpädagoge verloren, seine Kunst galt als „entartet“. Als sein wichtigster Mitstreiter fungierte bei der Documenta 1, 2 und 3 der Kunsthistoriker Werner Haftmann. Haftmann war nicht nur Mitglied in NSDAP und SA, er leitete auch nach der deutschen Besetzung Italiens als ziviler „Sonderführer“ eine militärische Einheit, die in der „Bandenaufklärung“ eingesetzt wurde.

Wie Recherchen des Historikers Carlo Gentile ergaben, war er an der Folterung und Ermordung von Verdächtigen beteiligt.

Das Schweigen passt zur ersten Documenta, in der der Holocaust thematisch nicht vorkam

Unter dem Vernehmungsprotokoll eines 20-jährigen Widerstandskämpfers und eines 54-jährigen Bauern, die erschossen wurden, findet sich Haftmanns Name. In der Ausstellung ist ein italienischer Zeitungsartikel von 1946 zu sehen, der über die Kriegsverbrecher-Fahndung nach Haftmann als „deutscher Hyäne“ berichtet.

Man hat es hier nicht bloß mit Kunstgeschichte, sondern auch mit einem Kriminalfall zu tun.

Über seine Vergangenheit hat Haftmann nach 1945 geschwiegen. Das Schweigen passt zur ersten Documenta, in der der Holocaust thematisch nicht vorkam.

Von den Nazis distanzierte sich Haftmann, indem er ihnen ihren falschen Geschmack, die Verdammung des Expressionismus vorwarf, den er einst selbst für überaus nordisch und kompatibel mit der Blut-und-Boden-Ideologie des Regimes gehalten hatte. Er erklärte sie zu „Banausen“, so Julia Voss, eine der drei Kurator:innen der DHM-Ausstellung.

Haftmanns zweifelhafte Methoden waren schon vor zwei Jahren ein Thema in der Emil-Nolde-Ausstellung im Hamburger Bahnhof. Er setzte die Legende in die Welt, dass Parteimitglied und Hitler-Fan Nolde ein Gegner des Regimes gewesen sei, dessen „ungemalten Bilder“ klandestin entstanden.

In seinem Bestseller „Malerei im 20. Jahrhundert“ (1954) schreibt Haftmann: „Die moderne Kunst wurde als jüdische Erfindung zur Zersetzung des ,nordischen Geistes’ erklärt, obwohl nicht ein einziger der deutschen modernen Maler Jude war.“

Dass dieser Satz nicht stimmt, hat er selbst gewusst. Auf der vorläufigen Künstlerliste der Documenta 1 stand der Name des Malers Rudolf Levy, der später herausfiel. Haftmann kannte Levy, er hätte ihn in Florenz treffen können, wo der eine am Kunsthistorischen Institut ein und aus ging und der andere untergetaucht war. Nach dem Krieg erkundigte sich Haftmann in einem Brief nach dem Schicksal des Matisse-Schülers: „Lebt er noch in Florenz?“.

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Levy war im Dezember 1943 von SS-Männern festgenommen worden und starb wahrscheinlich einen Monat später auf dem Transport nach Auschwitz. Es wirkt wie eine Revision der einstigen Nicht-Berücksichtigung, dass in der Berliner Ausstellung nun ein halbes Dutzend seiner Werke hängt. Ein strahlendes Florenz-Panorama, der an Max Beckmann erinnernde Durchblick durch die Loggia des Palazzo Guadagni und sein letztes Selbstporträt von 1943. Mit Bartschatten und hinter Brillengläsern verborgenen Augen schaut Levy dem Betrachter entgegen, wie zum Aufbruch bereit.

Es gab keine Stunde Null, das war auch bei der Berlinale so. Auch dort dauerte es Jahrzehnte, bis 2020 die braune Vergangenheit ihres Gründers und langjährigen Leiters Alfred Bauer publik wurde, der in der NS-Zeit ein hoher Filmfunktionär gewesen war. Die Documenta versteht sich als Weltausstellung zeitgenössischer Kunst, die Berlinale zählt zu den bedeutendsten Filmfestivals. Doch bei der Aufarbeitung ihrer Vergangenheit haben beide Kulturinstitutionen versagt.

Die Documenta, die sich zum „großen, wilden Ding“ (Kuratorin Dorothee Wierling) entwickelte, war von Anfang an politisch. Kassel lag unweit der deutsch-deutschen Grenze. An der Konfrontationslinie von Kapitalismus und Kommunismus lautete ihr „Kampfruf Freiheit“ (Kurator Lars Bang Larsen). In seiner Eröffnungsrede zur Documenta 2 sprach Haftmann ergriffen von einer „Phalanx“ amerikanischer Künstler, die „aus der Reihe des Konformismus trat und exemplarisch ihre Freiheit lebte“.

Zu sehen war fast ausschließlich abstrakte Kunst. Die Abstraktion wurde zur „Weltsprache“ der Kunst ernannt, die fähig sei, alle Grenzen zu überwinden. Der sozialistische Realismus stand hingegen unter verschärftem Totalitarismus-Verdacht. Zentraler Blickfang der vom Museum of Modern Art zusammengestellten US-Auswahl war ein riesiges Drip Painting von Jackson Pollock.

Bernhard Heisigs Weltkriegs-II-Schlachteplatte

Der ideologische Graben war tief. Zum Eklat kam es, als 1977 sechs DDR-Staatskünstler nach Kassel eingeladen wurden. Georg Baselitz und Markus Lüpertz zogen ihre Bilder ab, weil sie nicht mit „Vertretern traditioneller deutscher Intoleranz“ konfrontiert werden wollten.

In Berlin sind einige der ostdeutschen Vorzeigewerke noch einmal zu sehen. Man kann die Aufregung von damals schwer nachvollziehen, weil sie bei aller Virtuosität ziemlich bleiern wirken: Willi Sittes Baustellenfeier „Die Sieger“, Bernhard Heisigs Weltkriegs-II-Schlachteplatte „Festung Breslau“, Fritz Cremers heroisch verrenkte Skulptur „Aufsteigender“.

Die Ausstellung widmet sich den ersten zehn Ausgaben der Documenta, ihre Zeitachse reicht von 1955 bis 1997. Wegweisend war die Documenta 5, die 1972 vom ersten Allein-Kurator Harald Szeemann zum Ort radikaler Experimente gemacht wurde. Das war umstritten.

Der Maler Daniel Buren klagte im Katalog über Ausstellungen, „die sich selbst als Kunstwerk ausstellen“. Künstler verwandelten sich in Aktivisten, das sollte so bleiben. Joseph Beuys begrünte mit seiner Aktion „7000 Eichen“ den Stadtraum. Hans Haacke installierte in seiner „Hommage à Marcel Broodthaers“ eine Aufnahme von einer Anti-Nato-Demonstration in Bonn gegenüber einem Gemälde des US-Präsidenten Reagan.

Eines war die Documenta immer: hauptsächlich männlich. Nur zwischen zehn und 15 Prozent der ausgestellten Werke stammten von Frauen. Als die Künstlerin Chris Reinecke 1968, während der Pressekonferenz zur Documenta 4, Arnold Bode zu küssen versuchte, wollte sie ihn „als Frau provozieren“, wie sie im Katalog erzählt, und gleichzeitig klar machen, „dass wir das gute alte Tafelbild nicht mehr sehen wollten“.

Doch eines der stärksten Exponate waren damals Tafelbilder der Minimal-Art-Malerin Jo Baer. Ihr Dyptichon, zwei leere Leinwände, ist ein Dokument der Abwesenheit.

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