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Johann Wolfgang von Goethe lagert auf dem Gemälde von Johann Heinrich Tischbein aus dem Jahr 1787 in der römischen Campagna.

© dpa

Deutschland-Ausstellung im British Museum in London: Land der Dichter und Bastler

In den Nachkriegsjahrzehnten haben die Briten die Deutschen nicht gerade geliebt. Überraschend zeigt das British Museum in London jetzt die Ausstellung "Deutschland: Erinnerungen einer Nation“.

Im lichtdurchfluteten Innenhof des British Museum, wo tagtäglich viele tausende der mittlerweile sechs Millionen Jahresbesucher flanieren, steht ein „Käfer“, ein Exemplar des Volkswagens schlechthin, hier aus dem Jahr 1953. Ein Schild verrät, das mit diesem Auto die Erfolgsgeschichte der deutschen Nachkriegswirtschaft beginnt. Zwei muslimische Mädchen posieren gerade davor und lassen sich von einem dritten fotografieren. Ein Sinnbild ist das für die interkulturelle Rolle, die Museumsdirektor Neil MacGregor seinem Haus zugedacht hat und die er mit seinen Ausstellungen – zur Zeit läuft auch eine Prachtshow über die chinesische Ming-Dynastie – ausfüllt.

Im Grunde seines Herzens aber ist MacGregor germanophil. Höchstpersönlich hat er die seit gestern zugängliche Ausstellung „Deutschland: Erinnerungen einer Nation“ zusammengestellt, eine Geschichte in 200 Objekten, die man nicht anders als eine intellektuelle Liebeserklärung an das Land in der Mitte Europas verstehen kann. MacGregor war in den fünfziger Jahren Austauschschüler in Hamburg und spricht ein fließendes, mit charmantem Akzent versehenes Deutsch. Er lernte in Hamburg, wie er sagt, persönliche „Freiheit“ kennen: Diese Freiheit hat meine Einstellung geprägt, eine sehr glückliche Erfahrung.“

Deutschland als Land der Freiheit? Es ist zugleich, und MacGregor weiß es und zeigt es in seiner Ausstellung, das Land der schlimmsten Verbrechen. Das heutige Deutschland sei „eine Nation, die im Schatten der dunkelsten Erinnerungen geformt wurde, dem Holocaust“. So besagt es unmissverständlich eine der Texttafeln, die die Ausstellung begleiten und die auch nötig sind, handelt es sich doch nicht um eine herkömmliche Chronologie von Herrschern und Kriegen, sondern um den Versuch, die kollektive Identität der Deutschen, ihr historisches „Narrativ“ zu erkunden und in Objekten bildhaft zu machen.

Die deutsche Eiche darf nicht fehlen

Die Ausstellung beginnt, in diesen Tagen unvermeidlich, mit dem Fall der Mauer, mit einem Video vom Abend des 9. November, mit dem schieren, noch ungläubigen Glück derer, die die mit einem Mal hilflos gewordenen NVA-Grenzbewacher einfach beiseiteschieben. Und dann der radikale Schnitt: Deutschland wird als Land der stets unsicheren Grenzen, eines sich beständig wandelnden Territoriums gezeigt. Anhand von vier Städten, die einst zum mittelalterlichen Kaiserreich gehörten: Basel, Straßburg, Prag und dazu, als Bestandteil des einstigen Preußen, Königsberg.

Und dann wird die ganze Fülle der Zeit um und nach 1500 ausgebreitet, die Zeit von Buchdruck und Reformation, die im geistigen Bereich eine kopernikanische Wende bewirkten. Die Erzeugnisse der Augsburger und Nürnberger Goldschmiede und Metallwerkstätten hat das British Museum in seinem überreichen Bestand, die zweibändige Bibel von 1541 mit handschriftlicher Widmung Luthers kommt aus der British Library. Tilman Riemenschneiders wundervoll geschnitzte „Vier Evangelisten“ kommen aus der Berliner Skulpturensammlung – und aus der Berliner Nationalgalerie das gleich daneben präsentierte Gemälde „Gotischer Dom am Wasser“ von Karl Friedrich Schinkel.

Einen solchen Sprung über drei Jahrhunderte weg macht die Ausstellung ohne Weiteres. Es stellt dies optisch auch keinen Bruch dar. Denn es geht eben nicht um Ereignis-, sondern um Mentalitätsgeschichte. Die deutsche Eiche darf nicht fehlen, sie ist auf Bildern der deutschen Romantik von Caspar David Friedrich und Carl Gustav Carus präsent; hier haben die Dresdner Museen Spitzenwerke hergeliehen.

Überhaupt hat MacGregor, der mit nunmehr 68 Jahren so frisch und ideensprudelnd wirkt wie stets, seit er 1987 Direktor der National Gallery und 2002 des British Museum wurde, kraft seines Namens die besten Stücke bekommen. Die deutschen Lande der frühen Neuzeit werden als Zentren innovativer Produktion gewürdigt, von einem mechanisch bewegten Schiffsmodell von 1580 bis hin zum Nashorn aus Meißner Porzellan von 1730 – hat das liebenswerte Tier jemals zuvor seinen Platz im Dresdner Museum verlassen dürfen? Das Porzellan wurde in Meißen geformt, und zwar mangels Kenntnis des exotischen Originals nach dem seinerseits aufgrund Hörensagens gefertigten Dürer-Kupferstich von 1515. Der ist natürlich gleichfalls zu sehen.

Tischbeins Gemälde „Goethe in der Campagna“ aus Frankfurt ist wahrlich eine Ikone deutschen Geistes: Hier präsidiert sie über einem Kapitel der in fließenden Kompartimenten arrangierten Ausstellung, das sich mit Weimar beschäftigt, mit der deutschen Klassik und zugleich dem frühen „Bauhaus“. Geist und Geschick, Dichtung und Industrie, das ist einer der fortlaufenden Erzählstränge.

Ernst Barlachs "Schwebender": Eine Verdichtung deutscher Geschichte

Und dann kommt Buchenwald. Die Nazi-Zeit und der Terror. Auch da ein Objekt erster Hand: das schmiedeeiserne Tor zum Konzentrationslager oberhalb der Klassikstadt, die seither nie mehr ohne ihre mörderische Negation gedacht werden kann. Am Holocaust führt keine Erinnerung vorbei. Aber die Ausstellung bleibt bei der bloßen Feststellung des Unfasslichen nicht stehen.

Tief ins kollektive Gedächtnis der Deutschen hat sich die Nachkriegszeit, haben sich Heimatvertriebene, Trümmerfrauen und Teilung in zwei Staaten eingegraben. Nun stammen die zugehörigen Objekte zumeist aus dem Deutschen Historischen Museum Berlin. Am Ende des Rundgangs ist Ernst Barlachs „Schwebender“ aufgehängt, jene Bronzeskulptur aus dem Dom zu Güstrow, die 1927 als Denkmal für die Gefallenen des  Weltkriegs angebracht, von den Nazis beseitigt und 1953 erneut gegossen worden war. Diese Geschichte, so der Text, mache die überlebensgroße Skulptur „zu einer Verdichtung der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert und zu einem starken Symbol der Aussöhnung.“

„Aussöhnung“ mit der Geschichte im Sinne der Annahme dessen, was nie mehr geheilt werden kann. Das ist eine Geschichtsbetrachtung, die den Briten, einer ihrem Selbstverständnis nach stets siegreichen Nation, fremd ist. Und fremd auch, dass die Kriege nicht vorkommen, weder der Erste noch der Zweite Weltkrieg; nicht das, was sich ihnen als „the finest hour“ (Churchill) tief ins Gedächtnis eingegraben hat. Goethe in der Campagna, und dann das verschlossene Tor von Buchenwald: Das dürfte das stärkste Bildpaar sein, das diese Ausstellung herzeigt. Zugleich ist sie das leidenschaftliche Bekenntnis des Kunsthistorikers MacGregor zur Kraft und zum Reichtum der Objekte. Zur Kraft der Bilder, die ihr Anblick im Betrachter erzeugt.

Gleich am Beginn der Ausstellung erblickt man an der Wand das Zitat aus den „Zahmen Xenien“ von Goethe und Schiller: „Deutschland? Aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden.“ Gewiss, hier meint es das stets veränderte Territorium. Doch ebenso erhellend wäre die Fortsetzung gewesen: „Wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf.“ Es ist das, was die Ausstellung zeigt; nicht nur, aber auch. Sie zeigt, was überhaupt eine Nation konstituiert: nämlich Erinnerung.

London, British Museum, bis 25. Januar. Ein Begleitbuch erscheint am 6. November. Mehr unter britishmuseum.org

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