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In seinen politischen Abgründen schon fast entzaubert. Martin Heidegger im turbulenten Jahr 1968 an seinem Rückzugsort Todtnauberg im Schwarzwald.

© bpk/Digne Meller Marcovicz

Deutsche Philosophie der Zwischenkriegszeit: Ein Kleeblatt mit vier Stilen

Auf den Spuren von Heidegger, Cassirer und Co.: Der Journalist Wolfram Eilenberger entdeckt in seinem Buch „Zeit der Zauberer“ das große Jahrzehnt der Philosophie.

"Wenn draußen vor dem Fenster ein Mensch merkwürdige Verrenkungen macht, werde ich mich fragen, was mit ihm los ist. Ist er betrunken, spielt er verrückt? Womöglich habe ich nicht bemerkt, dass draußen ein Sturm tobt und ihn umzuwerfen droht." Dass er sich vorkommt, wie solch ein Mensch, „der sich nur mit Mühe auf den Beinen hält“, legt Ludwig Wittgenstein seiner Schwester Hermine nahe, um ihr klarzumachen, warum er die Philosophie aufgeben will, um Volksschullehrer zu werden.

Wittgenstein war der Spross einer der reichsten Industriellenfamilien Wiens. Er ist mindestens ebenso bekannt dafür, dass er sein Vermögen verschenkte oder für seine Sentenz „Die Welt des Glücklichen ist eine andere Welt als die des Unglücklichen“ im „Tractatus logico-philosophicus“, seinem einzigen zu Lebzeiten erschienenen größeren Werk.

Der Unterschied zwischen sagen und zeigen

Obwohl es die Probleme der Philosophie ein für alle Mal aus dem Weg räumen wollte, obwohl es so klar strukturiert ist wie ein Handbuch der Logik und als eines der Gründungsdokumente der analytischen Philosophie gilt, streitet man bis heute über dessen Sinn. Sind womöglich all seine Sätze „unsinnig“, nur um den letzten Satz „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“ zu beweisen? Er sprach von einer „Leiter“, die man wegwerfen müsse, wenn man auf ihr emporgestiegen sei – und vom Unterschied zwischen sagen und zeigen.

Anders als das „vierblättrige Kleeblatt“ Adorno, Benjamin, Bloch und Kracauer hatten die vier Philosophen, die Wolfram Eilenberger in „Zeit der Zauberer“ in eine durchaus aussagekräftige Konstellation bringt, zu Lebzeiten kaum miteinander zu tun. Walter Benjamin und Martin Heidegger haben immerhin zur gleichen Zeit bei Heinrich Rickert in Freiburg studiert, sind also in die Schule des Neukantianismus gegangen. Später ärgerte sich der drei Jahre jüngere Benjamin über den zielstrebig zum Professor in Marburg und Freiburg aufgestiegenen Kommilitonen, nicht zuletzt, weil der sich längst mit Duns Scotus habilitiert hatte, als er den Scholastiker gerade zu seinem neuesten Projekt machen wollte.

Die originellste Figur bei Eilenberger ist Ernst Cassirer

Ludwig Wittgenstein und Martin Heidegger, beide Jahrgang 1889 (wie Adolf Hitler), kann man als philosophische Antipoden verstehen, von denen der eine, Wittgenstein, mit der Erfahrung von Front und Kriegsgefangenschaft, nur zu gut wusste, wovon der andere in seiner Existenzphilosophie sprach. Erst im letzten Jahr hat Manfred Geier eine anregende Monographie über diese Konstellation publiziert.

Die originellste Figur in Eilenbergers Arrangement ist Ernst Cassirer, der nie viel Aufhebens um die eigene Person machte. Seit 1919 Professor in Hamburg, brachte er zwischen 1923 und 1929 die drei Bände seiner „Philosophie der symbolischen Formen“ heraus und fand in Aby Warburgs berühmter kulturwissenschaftlicher Bibliothek den idealen Ort für seine Studien, einen Ort, dessen Ordnungssystem der „guten Nachbarschaft“ seinem eigenen Geist hätte entspringen können. Erst durch den 1874 in Breslau geborenen, fast eine Generation älteren Kulturphilosophen bekommt Eilenbergers Buch Kontur.

Als überzeugter Demokrat hielt er 1928 eine Rede zur Verfassungsfeier der Weimarer Republik, zu der er sich auch in seiner Antrittsrede als Rektor bekannte, aus historischer Warte das Gegenstück zu Heideggers Rektoratsrede vom Mai 1933.

Für den Laien geschrieben

Wolfram Eilenberger, früher Chefredakteur des „Philosophie Magazins“ und seit Kurzem Programmleiter des Nicolai Verlags, sieht in Leben und Werk der vier Philosophen beispielhafte Existenzentwürfe. Sein Buch ist für den interessierten Laien geschrieben, jenen umworbenen Leser auf der Suche nach Lebenssinn also, der mittlerweile zum Heros der nichtakademischen Philosophie geworden ist. Das Zusammenspiel von biografischen Faktoren, Zeitgeschichte und Ringen mit dem Werk beschreibt „Zeit der Zauberer“ oft erhellend. Gelegentlich stört das stilistische Schwanken zwischen Pathos und Hemdsärmeligkeit.

Während der Autor bei der heuristischen Zuspitzung zur Orgel neigt, nennt er Walter Benjamin gern beim Vornamen. Wenn er Benjamins Lebensentwurf als freier Kritiker und Privatgelehrter eine „akademisch überambitionierte Prekariatsexistenz“ nennt, hört sich das an, als wolle er ihn kumpelhaft in die Seite boxen, um ihn noch posthum zu mehr Realitätssinn anzuspornen. Aber vielleicht ist das nur eine Reaktion auf die Verklärung Benjamins zum melancholischen Propheten des Fragments in den 1970er und 80er Jahren – und ein kleiner Schubs, damit er in der richtigen Schublade des Existenzentwurfs landet.

Die vier Bälle gleichzeitig in der Luft zu halten, ist keine leichte Aufgabe. Eilenberger bewältigt sie elegant, indem er fast alles außer Acht lässt, was nicht in den Zeittunnel des Jahrzehnts passt, das er etwas willkürlich zum „großen Jahrzehnt der Philosophie“ ausruft. Sicher, Heidegger hat 1927 unter Zeitdruck „Sein und Zeit“ publiziert, Wittgensteins „Tractatus“ erschien 1922 (sein zweites Werk, „Philosophische Untersuchungen“, 1953 posthum), Ernst Cassirers dreibändiges Hauptwerk fällt in diese Zeit und Benjamins wenige zu Lebzeiten publizierten Bücher wie „Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik“ und „Einbahnstraße“. Aber genügt das?

Drei der vier Philosophen kamen aus assimilierten jüdischen Familien

Mit Fug und Recht lässt sich behaupten, dass der Erste Weltkrieg eine philosophische Herausforderung sui generis darstellt: als Bruch mit dem Vorhergehenden und als Beginn eines neuen, mit der Fatalität der Technik konfrontierten Menschenbilds. In politischer, moralischer und metaphysischer Hinsicht stand alles auf dem Prüfstand. Dazu kam die Revolution des Weltbilds durch Einsteins Relativitätstheorie und die Heisenbergsche Unschärferelation. Die fragmentarische Struktur auch der bedeutenden Werke dieser Epoche kann als Zeichen dieser Herausforderung gedeutet werden. Ernst Cassirer, der die stabilisierende Funktion symbolischer Formen untersuchte und 1921 eine Abhandlung über die Relativitätstheorie schrieb, ließ sich in seinem Glauben an die zivilisierende Kraft der Kultur nicht beirren. Sie wirkt in seinen Augen auch gegen die Angst vor der eigenen Endlichkeit, die Heidegger ins Zentrum seines Denkens stellte.

Die Begegnung von Heidegger und Cassirer bei den zweiten Davoser Hochschulkursen im Frühjahr 1929, bei denen sie über Kant disputierten, ließ den jüngeren, vom Skifahren gebräunten Heidegger in besserem Licht erscheinen. Dramaturgisch effektvoll baut Wolfram Eilenberger die „Zauberberg“-Szenerie zur Rahmenerzählung seines Buches aus. Drei der vier Philosophen kamen aus assimilierten jüdischen Familien. Wittgenstein, der Katholik war, erwarb 1939 als Philosophieprofessor in Cambridge die britische Staatsbürgerschaft, um nicht nach den Nürnberger Gesetzen als Jude zu gelten. Cassirer ging im März 1933 ins Exil. Walter Benjamin nahm sich 1940 auf der Flucht das Leben. Die Beschränkung auf ein Jahrzehnt mag für den beachtlichen Kraftakt dieses Buches eine notwendige Zielvorgabe gewesen sein, ganz glücklich ist sie nicht.

Wolfram Eilenberger: Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919-1929. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2018. 430 Seiten, 25 €.

Meike Feßmann

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