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Ewige Stadt. Filippo Sanjusts Bühnenbilder für die „Tosca“ zeigen die römischen Originalschauplätze der Oper. Hier die Dachterrasse der Engelsburg.

© Bettina Stoess

Deutsche Oper Berlin: Floria, Mario und ich

398 Aufführungen in 50 Jahren: ein persönlicher Glückwunsch zum Jubiläum der „Tosca“ an der Deutschen Oper Berlin.

„Mit Tosca kam die Zärtlichkeit“ lautet ein legendärer Werbespruch der 70er Jahre. Damit war ein Parfum gemeint, 1921 lanciert, zeitgleich mit Chanel No. 5, und dargeboten in einem tropfenförmigem Flakon in Edelsteinschliff-Optik. Eine Hommage an Giacomo Puccinis Opern-Hit sollte dieser Duft sein. Ein kluger, zielgruppenorientierter Marketingcoup: Handelt es sich bei „Tosca“ laut Eigenwerbung doch um ein Parfum „für die Frau ab 50“. Das passt zum Durchschnittsalter des Opernpublikums.

Später wurde der Zärtlichkeits-Slogan durch die Formulierung „zeitlose Eleganz“ ersetzt. Was wiederum an die „Tosca“ der Deutschen Oper Berlin denken lässt, die am heutigen Samstag ihr 50-jähriges Premierenjubiläum feiert. Mit der 398. Aufführung der filmrealistisch ausgestatteten Boleslaw-Barlog-Inszenierung von 1969.

Wenn sich eine Produktion ein halbes Jahrhundert lang im Spielplan hält, ist das dann überhaupt ein Grund zur Freude? Lebt Kunst nicht von der Veränderung, erstarrt sie nicht, wenn sie stehenbleibt? Acht Jahre erst lag die Eröffnung des Bornemann-Neubaus an der Charlottenburger Bismarckstraße zurück, als Barlog seine Sicht auf Puccinis Verismo-Drama um die Opernsängerin Floria Tosca und den Maler Mario Cavaradossi vorstellte, die sich mutig dem Terrorregime des römischen Polizeichefs Scarpia entgegenstellen und dafür mit ihrem Leben bezahlen. Pilar Lorengar, Franco Tagliavini und Ingvar Wixell waren die Protagonisten der Premiere, es dirigierte der 39-jährige Lorin Maazel.

Durchreisende Stars und mutige Einspringer wurden bejubelt

Seitdem sind Generationen von Sängern in den historisch korrekten Kulissen aufgetreten, durchreisende Stars, verdiente Ensemblemitglieder und mutige Einspringer. Leonie Rysanek und Montserrat Caballé wurden bejubelt, Gwyneth Jones und Anja Harteros, Neil Shicoff sang 22 Vorstellungen, Placido Domingo sieben, Pavarotti und Jonas Kaufmann jeweils zwei. Jeder, der in Berlin regelmäßig in die Oper geht, hat seine ganz privaten „Tosca“-Erinnerungen.

Und jeder, der dem Musiktheater eher fern steht, wird sich durch das Goldene Jubiläum in seinen Vorurteilen bestätigt fühlen. Gegenüber dem „Museum Musiktheater“, in dem immer wieder die gleichen Stücke gespielt werden, im schlimmsten Fall jahrzehntelang in derselben Inszenierung! Die Deutsche Oper selber hängt das Ereignis nicht an die große Glocke, veranstaltet am Samstag keine Festaufführung, sondern nur eine ganz normale Repertoirevorstellung, ohne illustre Sängernamen, mit Ivan Repusic am Pult.

Auch wenn bei der Live-Kunstform Oper jeder Abend ein Unikat darstellt, weil das Notenmaterial eben nur dann zum Leben erwacht, wenn sich echte Menschen darum kümmern, wenn also keine der 398 „Toscas“ der anderen aufs Haar gleicht – der Stolz jedes Intendanten sind natürlich nicht die Dauerbrenner, sondern die frischen Produktionen. Gerade bereitet man sich an der Deutschen Oper auf eine Uraufführung vor, am 28. April wird Detlef Glanerts Vertonung des Romanfragments „Oceane“ von Theodor Fontane herauskommen. Das sind die Prestigeprojekte. Die altgedienten Publikumslieblinge dienen dazu, Lücken im Spielplan zu stopfen.

In Deutschland wird nach Repertoiresystem gespielt

Weil in Deutschland traditionell nach dem Repertoiresystem gespielt wird, müssen die großen Bühnen einen riesigen Fundus an verfügbaren Stücken bereithalten, die sie im Wechsel mit den Neuproduktionen zeigen können. Beim italienischen Stagione-Betrieb, das weltweit die meisten Opernhäuser übernommen haben, steht dagegen jeweils nur ein einziges Werk auf dem Spielplan, das in einer Serie von Aufführungen gezeigt wird, bevor dann das nächste herauskommt.

An der Deutschen Oper werden in der kommenden Spielzeit neben den sechs Novitäten 40 verschiedene Wiederaufnahmen gezeigt. Produktionen wie die „Tosca“, in die sich Gastsänger schnell einfinden können, weil die altbekannte Story hier auf traditionelle Weise erzählt wird, sind dabei wichtige Stützen im Spielplan. Die Staatsoper hat mit Ruth Berghaus’ „Barbier von Sevilla“ sogar eine noch ältere Produktion auf Lager – aus dem Jahr 1968 –, in Mannheim spielt man seit 1957 stets zu Ostern denselben „Parsifal“, und die Wiener „Tosca“ aus dem Jahr 1958 hat es mittlerweile auf über 600 Vorstellungen gebracht.

Repertoirebetrieb bedeutet Vielfalt. Was besonders den Menschen vor Ort zugute kommt. Berliner, die verrückt nach Musiktheater sind, können jedes Jahr zwischen 110 verschiedenen Interpretationen wählen, je nach Gusto avantgardistische oder konservative Produktionen sehen, vom Barock über Mozart und die romantische Oper bis zur Uraufführung lebendige Musikgeschichte erleben.

Wenige Monate nach der Premiere kam ich zur Welt

Mit den großen Repertoirehäusern verhält es sich außerdem wie mit Metropolen. Es macht Spaß, sich bislang unbekannte Ecken zu erobern – aber es ist auch schön, seinen Kiez zu haben, eine Gegend, in der man sich auskennt. Für sehr viele hauptstädtische Opernfans ist das die „Tosca“. Auch für mich. Wenige Monate nach der Premiere bin ich zur Welt gekommen, als Jugendlicher wurde die Begegnung mit Puccinis Thriller an der Bismarckstraße zu einem prägenden Erlebnis, beim ersten Rom-Besuch erschienen mir – dank des Bühnenbild-Realismus – die Originalschauplätze des Werkes bereits vertraut, die Kirche Sant’ Andrea della Valle, der Palazzo Farnese, die Engelsburg. Immer wieder habe ich im Laufe der Zeit diese Produktion gesehen, bin mir ihr gealtert, gereift.

Die Welt drumherum aber hat sich gewandelt – und wie! Im Jahr 1969 war Oper eine meist zutiefst konservative, bewusst elitäre Angelegenheit. Die Damen wählten Bodenlanges im floralen Großdruck und tupften sich „Tosca“ hinters Ohr, die Herren trugen fest gezurrte Krawatten zum dunklen Anzug. Niemals wären meine Eltern auf die Idee gekommen, diese Institution zu besuchen, selbst, wenn sie es sich damals hätten leisten können. Sie standen auf der anderen Seite, bei den Studentenprotestlern, bei denen, die die verkrustete Nachkriegsordnung aufbrechen wollten.

Im Musikbetrieb kam die neue Weltsicht mit deutlicher Verspätung an. Für die Deutsche Oper markiert erst die Intendanz von Götz Friedrich ab 1981 die Wende zum politisch engagierten Regietheater.

Die Oper sollte eine demokratische Versammlungsstätte sein

Da erst begann sich das Publikum dem anzunähern, was der Architekt Fritz Bornemann bei der Konzeption des Hauses im Sinn hatte. Eine zutiefst demokratische Versammlungsstätte sollte diese aus Ruinen auferstandene Deutsche Oper sein, mit einem Zuschauerraum, der – anders als die historischen Logentheater – den freien Blick auf die Bühne auch auf den billigen Plätzen garantiert. Und mit Foyers, die nicht aufs Sehen und Gesehen-Werden angelegt sind, sondern als weite, lichte Hallen, in denen sich die Gedanken und Gespräche frei entfalten können.

Jedem, der progressiv dachte, musste vor 50 Jahren die Diskrepanz zwischen dem optischen Erscheinungsbild des Gebäudes und der Ästhetik der „Tosca“ auffallen. Wie dem Tagesspiegel-Premierenkritiker Wolfgang Burde. „Einen geringen gesellschaftlichen Nutzen“ bei gleichzeitigem „großen finanziellen Aufwand“ bescheinigte er der Produktion. Schon die Entscheidung, Puccini auf den Spielplan zu setzen, bedürfe einer Rechtfertigung, fand Burde. Schließlich handele es sich bei dem Italiener um einen Komponisten, dessen Fantasie „gerade immer dann bemerkenswert schwach ist, wenn es um die Darstellung gesellschaftlicher Wirklichkeit geht“. Puccini gehe es eben um nichts als „schöne Stimmen und Pathos“.

Boleslaw Barlog arrangierte mit lockerer Hand

Und das, so ist in dem krachenden Verriss nachzulesen, biete der Abend dann auch. Regisseur Barlog beschränke sich aufs „Arrangieren mit lockerer Hand“, die Solisten „suchen ihr Heil in Affektposen, die musikalisch nicht belegbar und begründbar“ sind, und „forcieren einen Ton spektakulären Singens“. Der von dem Dirigenten Lorin Maazel „so nicht angestimmt“ war. Maazel ist überhaupt der einzige, dessen künstlerische Integrität der Kritiker nicht in Frage stellt und dem er Geschmack konzediert, weil er „in jedem Augenblick weiß, wie weit er zu weit gehen darf“.

Boleslaw Barlog ist 1999 gestorben, sein Ausstatter Filippo Sanjust (dem auch die „Lucia di Lammermoor“ und die „Gioconda“ mit den gemalten Bühnenbildern zu verdanken sind, die an der Deutschen Oper immer noch gespielt werden) bereits 1992. Pilar Lorangar lebt nicht mehr, eben sowenig die anderen Protagonisten der Premiere. Allein José van Dam, der damals die Mini-Rolle des Cesare Angelotti übernahm, erfreut sich noch rüstiger Gesundheit.

Und doch läuft die „Tosca“ weiter, ein Ende der Erfolgsserie ist nicht in Sicht. Was zu einer grundlegenden Erkenntnis führt: Mögen die Kritiken auch noch so vernichtend sein – wenn das Publikum eine Inszenierung ins Herz schließt, kann eine never ending love story daraus werden. Die erste große Opernkritik, die ich im Tagesspiegel schreiben durfte – natürlich war es ein Verriss –, galt August Everdings „Zauberflöte“ an der Staatsoper. Das war 1992. Die Produktion mit den historischen Schinkel-Bühnenbildern läuft bis heute, sogar ungeachtet der Tatsache, dass es mittlerweile eine Nachfolgeproduktion Unter den Linden gibt. Intendant Matthias Schulz lässt beide „Zauberflöten“ einfach im Wechsel spielen.

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