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Dieter Bingen (rechts) mit Florian Mausbach und Stefan Troebst vor der Ruine des Anhalter Bahnhofs in Berlin.

© Doris Spiekermann-Klaas

Deutsch-Polnische Beziehungen: Der Sisyphos von Darmstadt

Zwei Jahrzehnte hat Dieter Bingen das Deutsche Polen-Institut geleitet und von einem Literaturhaus in eine politische Instanz verwandelt.

Es ist ein Paradox unserer Zeit: Persönlichkeiten und Institutionen arbeiten über Jahre an der Verbesserung der Beziehungen zu Deutschlands Nachbarn und engen Partnern in Kultur, Politik und Wirtschaft. Sie erreichen bemerkenswerte Fortschritte. Und können doch nicht verhindern, dass sich die Großwetterlage im Verhältnis zu diesen Nachbarn und Partnern verschlechtert, zum Beispiel zu Polen unter der nationalkonservativen PiS-Regierung. Oder zu Trumps USA.

Neugier auf den Nachbarn wecken

Und so passt Albert Camus‘ Satz über Sisyphos auch auf Dieter Bingen, der das Deutsche Polen-Institut (DPI) zwei Jahrzehnte geleitet und in eine neue Ära geführt hat: „Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“

Dieter Bingen hat es zu seinem Herzensanliegen gemacht, „Polen seinen gebührenden Platz im Bewusstsein der Deutschen zu geben: als Nachbar, auf den man neugierig ist“. Noch immer sei das Wissen der Deutschen über ihre Nachbarn im Osten sehr begrenzt.

Vieles musste sich ändern, als der damals 46-jährige Kölner 1999 die Leitung des DPI übernahm. Auch damals hatte sich zuvor die Großwetterlage radikal gewandelt gegenüber den Anfängen. Karl Dedecius, 1921 als Deutscher in der polnischen Industriestadt Lodz geboren, hatte das DPI 1980 mit Finanzhilfe der Bundesländer Hessen und Rheinland-Pfalz auf der Mathildenhöhe in Darmstadt gegründet.

Nachbarschaft mit Hindernissen: Ein polnischer und ein deutscher Fußballfan bei der Europameisterschaft 2016 in Frankreich.
Nachbarschaft mit Hindernissen: Ein polnischer und ein deutscher Fußballfan bei der Europameisterschaft 2016 in Frankreich.

© picture alliance / dpa

In einer Zeit, in der Polen hinter dem Eisernen Vorhang lag, die kommunistische Führung das Kriegsrecht verhängte, um die freie Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc niederzuschlagen, und empathische Deutsche Lebensmittelpakete schickten, hatte der geniale Übersetzer Dedecius, im Broterwerb Versicherungsvertreter, den Deutschen Polen als Literaturland näher gebracht, unter anderem mit der 50-bändigen „Polnischen Bibliothek“ im Suhrkamp-Verlag.

Für unsere und für eure Freiheit

Bingen erweiterte die Aufgabe ins Politische. Polen hatte die Selbstbefreiung Ostmitteleuropas von der Diktatur 1989 angeführt, war nun der größte Nachbar des wiedervereinigten Deutschland im Osten und auf dem Weg in Nato und EU. Er wollte Aufmerksamkeit für Polen an dem Ort wecken, wo nun die Musik spielte: in Berlin. Wieso luden die Regierenden zum 10. Jahrestag des Mauerfalls am 9. November 1999 die vier Alliierten ein, nicht aber Polen, wo 1989 alles begonnen hatte?

Bingen organisierte eine Podiumsdiskussion im Roten Rathaus „Für unsere und für eure Freiheit“ mit Bronislaw Geremek als Ehrengast. 600 Menschen kamen. Die Präsenz in Berlin hat er seither kontinuierlich ausgebaut, mit regelmäßigen Debatten über Polen und mit einem Hauptstadtbüro des DPI. Bundespräsident und Bundesregierung und Behörden lassen sich von Bingen beraten. In Polen genießt er Respekt, auch in den Reihen der PiS.

Überall in Deutschland trieb Bingen die Sichtbarkeit Polens voran. Ein Polen-Mobil tourt durch die Republik und animiert Schulen, sich mit dem Nachbarn im Osten zu beschäftigten. Das DPI gibt „Lehrwerke Polnisch“ für den Schulunterricht in Sprache und Geschichte heraus.

Es organisiert seit 2007 regelmäßig Tagungen der Polen-Forscher. Auch die „Kopernikus-Gruppe“ hat ihr organisatorisches Dach im DPI gefunden: ein Zusammenschluss von Journalisten, Wissenschaftlern und anderen Persönlichkeiten aus beiden Ländern, denen das bilaterale Verhältnis am Herzen liegt, die beide Sprachen beherrschen und sich alle halbe Jahr treffen, um ein drängendes Problem der Beziehungen zu diskutieren und Lösungsansätze in Arbeitspapieren der Öffentlichkeit vorzustellen.

Kleines Team, große Wirkung

Es ist schon erstaunlich, was ein kleines Institut mit gut einem Dutzend Mitarbeitern und einem Budget von anderthalb Millionen Euro unter tatkräftiger Führung so alles anstoßen und bewegen kann. Auch die Finanzierung musste Bingen auf neue Beine stellen. Nach langen Debatten kam das DPI in die institutionelle Förderung des Auswärtigen Amts (AA), auch dank der politischen Verbindungen von Präsidiumsmitgliedern wie der ehemaligen Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth und besonderen Engagements der damaligen Staatsministerin im AA, Cornelia Pieper.

Trotz all der Mühe sind die Herausforderungen im deutsch-polnischen Verhältnis nicht geringer geworden. Viele beklagen, dass die Beziehungen auf Regierungsebene schon mal besser waren als heute. „Es liegt nicht in unserer Macht, die Welt zu retten“, entgegnet der 67-Jährige mit rheinischem Humor. „Wir können ja nicht mal die deutsch-polnischen Beziehungen retten. Aber die wären noch schlechter, wenn es das DPI nicht gäbe.“

Gedenkort für Polen in Berlin

Bingen wirbt und mahnt unverdrossen: auch für einen Gedenkort in Berlin für die Opfer der Naziverbrechen an Polen. Als herauskam, dass Bundesregierung und Bundestag kein offizielles Gedenken zum 80. Jahrestag des Zweiten Weltkriegs in Berlin planen, der am 1. September 1939 mit dem Überfall auf Polen begonnen hatte, rief Bingen die Zivilgesellschaft auf, ein Zeichen zu setzen.

Hunderte kamen am Jahrestag mit Blumen in den polnischen Farben Weiß und Rot an die Ruine des Anhalter Bahnhofs, wo dieser Gedenkort entstehen soll, um gemeinsam mit Kriegsveteranen innezuhalten. Dank hilfreicher Geister hinter den Kulissen nahmen schließlich auch die höchsten Parlamentarier beider Länder, Sejm-Marschallin Elzbieta Witek und Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, teil und sprachen sich für den Gedenkort aus.

Und nun? Die Leitung des DPI übernimmt der bisherige Vize Peter Oliver Loew, unterstützt von einer Polin als Stellvertreterin, Agnieszka Lada. Die Hauptaufgabe bleibt: die Neugier auf und die Empathie für Polen, die historische Verantwortung und das Gespür für die Sensibilitäten in den nächsten Generationen wach zu halten. Und zu mehren.

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