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Klang, Körper. Beim Classic Detect Festival treffen Streicher auf DJs. das Publikum darf rumlaufen, Bier trinken, tanzen.

© Laura Kunzelmann

Detect Classic Festival: Neue Harmonielehre in Mecklenburg

Früher haben die Nazis am Tollensesee Torpedos getestet. Jetzt treffen hier klassische und elektronische Musik aufeinander.

Draußen auf der Seebühne wummert der Bass. Ein DJ legt auf, er überzieht zeitlich etwas. Hinter ihm in der Halle, dem Boots-Schuppen, imitieren der Perkussionist Alexej Gerassimez und Hiyoli Togawa an der Viola gerade den Klang einer Tropfsteinhöhle – das Werk „Deserts“ des katalanischen Komponisten Ferran Cruixent. Das Publikum ist still, der Bass der Seebühne dringt nur sanft herein. Dann begrüßen sich zwei junge Männer: „Na, Digger, auch da?“, ruft der eine. High Five. „Na sichi“, grölt der andere.

Niemand bittet um Ruhe. Keiner weist die beiden Männer zu ihren Plätzen. Sie kaufen sich Bier an der Bar neben der Bühne und setzen sich auf den Boden, lauschen entspannt den Klängen. Eigentlich sind sie wegen der Elektro-Rock-Band „Afar“ zum „Detect Classic Festival“ an den Tollensesee nahe Neubrandenburg gekommen. Das Festival findet das erste Mal statt und will Elektro-Beats und Klassische Musik vereinen.

Die australisch-japanische Rheinländerin Togawa spielt nun ausschließlich Flageolettöne und macht dabei Zischlaute. Die beiden Männer starren mit offenen Mündern hoch zur Bühne, sie bleiben bis zum Ende sitzen. Gerassimez gibt eine Zugabe: ein Stück, das er noch nie live dargeboten hat. Er hat keinen Namen dafür.

Nach dem Konzert nimmt er Vorschläge vom Publikum entgegen. „Ne, sowas haben wir noch nie gehört“, sagen die beiden jungen Männer mit dem Bier in der Hand. „War voll abgefahren.“ Und als Name für das Gerassimez-Stück schlagen sie „Dope“ vor. Der Perkussionist wird es zwar nicht so nennen, aber er mag die neuartige Atmosphäre und freut sich über das lebendige Publikum. Auch Togawa stört es nicht, dass zwischendrin geredet wird.

Musik drin. Während des Festivals legt stündlich ein Boot mit Musikern vom Ufer des Tollensesees ab.
Musik drin. Während des Festivals legt stündlich ein Boot mit Musikern vom Ufer des Tollensesees ab.

© Laura Kunzelmann/promo

Das Festival mit rund 1000 Besuchern ist Teil der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern. Seit 1990 finden im Sommer jährlich über 180 hauptsächlich klassische Konzerte statt, verteilt im ganzen Bundesland. Die Idee, ein Elektro-Klassik-Festival zu machen, hatte die Junge Norddeutsche Philharmonie (JNP). Mit 200 000 Euro pro Jahr ist die Finanzierung des Festivals in den nächsten drei Jahren erst mal gesichert.

Fürs Ambiente und das Design hat die JNP die zwei Berliner Kollektive „Jonny Knüppel“ und „Werkstatttraum“ aus Kreuzberg engagiert. Die haben Hallen und Bühnen neonfarben dekoriert, das Ganze erinnert ein wenig an die Stimmung eines Goa-Festivals. Der „Werkstatttraum“ kümmert sich auch um den Ausschank von Getränken.

Mehr Wein als Bier

Was hier anders ist als bei ihren sonstigen Festival-Erfahrungen? Klassikliebhaber bestellen mehr Wein als Bier. Zu den Festivalbesuchern gehören ansonsten nackte Jugendliche auf dem Zeltplatz, Neubrandenburger Einwohner und Elektro-Freaks.

„Wir wollen den Weg raus aus der Klassik-Szene wagen“, sagt Paulina Kiss. Die 24-Jährige ist im JNP-Vorstand, hat Bratsche studiert und „Elektroakustische Komposition“ in Weimar. 2016 hat die JNP das Detect-Festival bereits im Funkhaus in Berlin-Treptow veranstaltet. Aber dort konnte schlecht gezeltet werden und irgendwie wurde es kein richtiges Festival.

Dann die Kooperation mit den Festspielen und die Wahl des Ortes: Die ehemalige Torpedoversuchsanstalt der Nazis. In den Hallen, wo früher Unterwassergeschosse entwickelt wurden, finden nun die Konzerte statt. Neben der Seebühne steht ein Torpedo-Modell. Junge sowie ältere Besucher nutzen es als Sitzgelegenheit und Fotokulisse.

Vom Ufer des Tollensesees, wo die Waffen einst getestet wurden, legt während des Festivals stündlich ein Touristenboot ab. An Bord: Kammermusiker. Darunter die Cellistin Malaika Maria Müller. Auf einem Boot habe sie bisher auch noch nie gespielt, erzählt sie.

Die Konzerte finden in der ehemaligen Torpedoversuchsanstalt Neubrandenburgs statt.
Die Konzerte finden in der ehemaligen Torpedoversuchsanstalt Neubrandenburgs statt.

© Robert Klages

Die 22-Jährige hat ihre Eltern und Freunde mit zum Festival gebracht. Viele eher jüngere Menschen würden ansonsten nicht ganz so gern in die Philharmonie gehen – weil man sich dort schick anziehen müsse und nicht reden dürfe. Aber hier auf dem Festival darf man rumlaufen während der Konzerte und auch einfach mal rausgehen, abbrechen, wenn einem die Musik nicht zusagt. „Außerdem muss man in einer Philharmonie seine Emotionen zurückhalten und kann sich kaum bewegen, man sitzt so eng“, sagt Malaika Maria Müller.

„Auf dem Festival kann man körperlich ausdrücken, was man für die Musik empfindet.“ Und es werde nicht darüber gesprochen, ob die Interpretation im dritten Satz gut sei, wie in der Philharmonie. Sondern Musik erlebt. Für ihre Eltern ist auch die Elektro-Musik etwas Neues, das es zu erfahren gilt.

Viele ältere Leute sind angereist, haben sich sorgsam Termine für die Konzerte rausgesucht, bleiben aber auch mal an der lauten Seebühne hängen. So, wie die Brandts aus Schwerin. Sie zelten nicht, sondern schlafen im Hotel. „Für die junge Musik muss man Verständnis haben und sich darauf einlassen“, sagen die zwei Rentner.

Atemübungen und Abwasch

Das „Stehgreif-Orchester“ hat schon Erfahrung mit Elektro-Festivals, sie haben beispielsweise zuletzt auf dem Fusion-Festival gespielt. „Bewegt euch still und frei im Raum während des Konzerts“, bitten die Musiker zu Beginn des Konzerts. Zunächst machen sie gemeinsam mit dem Publikum Atemübungen.

Dann verteilt sich das Orchester in der ehemaligen Torpedo-Halle, die Zuschauer liegen auf Matten in der Mitte des Raumes. Später, während des Auftritts der Jungen Norddeutschen Philharmonie, dürfen wiederum die Zuhörer zwischen den Musikern Platz nehmen. Eine besondere Erfahrung für alle, auch auf dem Zeltplatz oder den Wiesen zwischen den Hallen: Irgendwo tonleitert immer jemand sein Instrument rauf und runter. Viele Mitglieder der JNP erzählen, dass sie privat zur Entspannung Elektro-Musik hören.

Auch für Elena Gniss und Joseph Varschen ist das Festival eine angenehme Abwechslung. Sie bilden das Duo „Afar“ und haben in diesem Jahr beispielsweise im Berghain gespielt. Elektro-Musiker, meint Joseph Varschen, hätten es manchmal satt, stets auf reinen Elektro-Festivals zu spielen. „Immer nur DJ, dann DJ, dann DJ, das ist sehr monoton.“

Er hat auch das Booking der Elektro-Acts für das Detect-Festival gemacht. Die JNP habe für die DJs zunächst eine Stunde zum Einspielen eingeplant, sagt er und lacht. Das wurde dann schnell wieder gestrichen. Die JNP hingegen war zehn Tage vor Ort, um sich vorzubereiten. Für einige von ihnen ist es neu, zu zelten, auch mal beim Abwasch zu helfen und die Notenständer selber zu tragen.

Und manche Elektro-Fans müssen sich wohl noch dran gewöhnen, pünktlich zu sein. Ein paar der Klassik-Konzerte finden in einer Kirche im Stadtkern statt, ein Shuttle-Bus bringt die Zuschauer dorthin, dann wird abgeschlossen. Die Zuspätgekommenen klopfen zaghaft. Und werden tatsächlich reingelassen.

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