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Zeitreise. Fast drei Jahre lebten 400 Menschen im Set von „Dau“ in der Ostukraine, im „Institut“, das von 1938 bis 1968 angesiedelt ist. „Dau“ ist in Farbe gedreht, die Set-Fotografen machten jedoch Schwarzweißbilder, für die institutseigene Zeitung.

© Orlova/Festspiele

Update

Details zu Kunstprojekt "Dau": Berlins neue Mauer heißt Otto

Eine Parallelwelt hinter einer Fake-Mauer, ein Selbsterfahrungs-Parcours: Die Verantwortlichen des Berliner Mauerprojekts "Dau" geben Einblick in ihre Pläne.

Die Mauer heißt Otto und besteht aus 900 Teilen. Nicht Pappmaché, sondern massiver Beton. Mehr will der Mitarbeiter von Compact-Team eigentlich nicht verraten. Die Firma hatte den Auftrag, Deckname „Otto“, die Mauer über Nacht zu errichten, damit Berlin sich die Augen reibt.

Nun ist es anders gekommen mit dem geheimnisumwitterten „Dau“-Projekt in Berlin, einer jeden Rahmen sprengenden XXL-Film-Weltpremiere innerhalb eines Mauer-umsäumten Stadtareals rund um das Kronprinzenpalais Unter den Linden. Wenn für ein Kunstprojekt dieser Größenordnung Genehmigungen beantragt werden, ist es quasi automatisch öffentlich, erklärt Thomas Oberender von den Berliner Festspielen. Die Festspiele firmieren als Veranstalter der ab 12. Oktober geplanten „Dau“-Präsentation. Seit zehn Tagen ist „Dau“ publik, umrankt von teils skandalösen Gerüchten. Der erste Gegenwind fiel scharf aus, von wegen DDR-Disneyland und stalinistischem Retro-Spektakel mit Gruselfaktor. Nun treten die Macher die Flucht nach vorn an und betreiben Schadensbegrenzung, indem sie öffentlich werben – schließlich ist „Dau“ von den Behörden noch nicht bewilligt.

Eine Produktion ohne Drehbuch, Szenen oder Takes

Dienstagmorgen im Schinkel Pavillon in der Oberwallstraße. Neben der Staatsoper, dem Pierre Boulez Saal mit der Barenboim-Said Akademie, der Alten Kommandantur, der Bertelsmann-Repräsentanz und dem Kronprinzenpalais gehört der Pavillon zum „Dau"-Areal. Die Hedwigskathedrale ist vor ein paar Tagen ausgestiegen, deshalb hat die Mauer am Bebelplatz jetzt einen Knick. Alle schwärmen sie bei Pressekonferenz von der Außergewöhnlichkeit des Projekts. Thomas Oberender skizziert eine „Landschaft für individualisierte Erfahrung“, spricht von „Dau“ als Ritual für die Bearbeitung der „Wunde Mauer“. Tom Tykwer, dessen Firma X-Filme beratend dabei ist, hat sich in „Dau“ verliebt und ist neidisch. Schließlich stemmen die X-Filmer selber gern Größenwahnsinniges beziehungsweise wahnsinnig Großes wie den „Wolkenatlas“ oder „Babylon Berlin“, und als Regisseur von „Das Parfum“ ist Tykwer die Beschäftigung mit Allmachtsfantasien vertraut. Medienboard-Chefin Kirsten Niehuus erinnert sich begeistert an ihren Besuch des „Dau“-Sets 2008 in der Ostukraine. Schinkel-Kuratorin Nina Pohl vergleicht die Arbeit von „Dau“-Regisseur Ilya Khrzhanovsky gar mit dem erweiterten Kunstbegriff von Joseph Beuys und Christoph Schlingensief.

Das Projekt geizt nicht mit Prominenz, von links nach rechts: Kirsten Niehuus (l-r, Geschäftsführerin Medienboard Berlin-Brandenburg), Jürgen Jürges (Kameramann), Nina Pohl (Kuratorin Schinkel Pavillon), Thomas Oberender (Intendant Berliner Festspiele), Susanne Marian (Phenomen Films) und Tom Tykwer (Regisseur).
Das Projekt geizt nicht mit Prominenz, von links nach rechts: Kirsten Niehuus (l-r, Geschäftsführerin Medienboard Berlin-Brandenburg), Jürgen Jürges (Kameramann), Nina Pohl (Kuratorin Schinkel Pavillon), Thomas Oberender (Intendant Berliner Festspiele), Susanne Marian (Phenomen Films) und Tom Tykwer (Regisseur).

© Jörg Carstensen/dpa

Und Khrzhanovsky selbst? Glänzt durch Abwesenheit. Was seine Aura des Mysteriösen und Dubiosen noch einmal verstärkt. Und es macht den Unterschied schlagartig klar: Beuys und Schlingensief standen gerade für ihre Kunst, tummelten sich mitten im Publikum, im Streitraum, im Auge des Orkans. Sie improvisierten, kreierten spontan. Khrzhanovsky scheint dagegen ein Kontrollfreak zu sein. Geschlossene Gesellschaft, da wird Öffentlichkeit schnell zum Störfaktor.

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Also, warum ist Khrzhanovsky nicht da? Oberender und Tykwer verteidigen ihn. Er sei nicht das Mastermind, nicht der Autor, keine allwissende Instanz. Schon beim Filmdreh für „Dau“ habe es ja kein Drehbuch gegeben. Eine Produktion ohne Szenen und Takes, also gibt es auch keinen Regisseur im klassischen Sinn.

Eine Zeitreise durch die Stalin-Ära mit eigenen Kostümen, eigener Währung und Zeitung

So viel war schon durchgesickert: „Dau“, zunächst ein „normales“ Biopic über den Physik-Nobelpreisträger Lev Landau (Spitzname Dau) nach einem Script von Vladimir Sorokin, startete als russisch-ukrainisch-deutsch-französischschwedische Koproduktion. Das Medienboard Berlin-Brandenburg beteiligte sich mit 350 000 Euro. Der russische Unternehmer Sergej Adonjew übernahm die Finanzierung, als die Sache ausuferte. Das Set bei Charkow – Landaus geheimwissenschaftliches Moskauer „Institut“ – wurde von 2008 bis 2011 von Laiendarstellern bewohnt; die Filmwelt verwandelte sich in eine Realwelt, die in Zeitsprüngen die Jahre von 1938 bis 1968 Revue passieren ließ, mit kompletter Infrastruktur, Wohnungen, historischen Kostümen, eigener Währung und eigener Zeitung. Adonjews Londoner Stiftung Phenomen Trust bezahlt jetzt auch die Berliner Aktion unter dem Motto „Freiheit“. Präsentationen in Paris („Gleichheit“) und London („Brüderlichkeit“) sollen folgen.

Ein Set, auf dem 14 Babys geboren wurden, so die Gerüchteküche. Auch MeToo-Vorwürfe wurden laut, von wegen Khrzhanovskys zahlreicher „Assisteninnen“. Projektleiterin Susanne Marian und Kameramann Jürgen Jürges dementieren beides. Im Gespräch erläutert Marian den Authentizitätsfaktor des „Dau“-Simulacrums. Die Beteiligten konnten das „Institut“ über eine Zeitschleuse jederzeit verlassen, ließen sich aber darauf ein, auf dem 12 000-Quadratmeter-Set das Leben unter Stalin nicht zu spielen, sondern zu leben. Viele verkörperten sich selbst, nur im Kostüm. Weshalb die Komsomol-Kraftprotze der 60er Jahre auch von realen Neonazis dargestellt wurden, als sie ein Massaker anrichten und das Institut zerstören.

Jeder konnte jederzeit gefilmt werden, auch „privat“ beim Familienfest oder beim Nachbarschaftsstreit in der Kommunalka. Oder eben beim Sex. Ja, es gibt echten Sex in den 13 Filmen und drei Serien, die bislang aus dem 700-Stunden-Material aus 140 Drehtagen destilliert wurden.

Einsamkeit und Formenstrenge. Eine weitere Fotografie vom Set.
Einsamkeit und Formenstrenge. Eine weitere Fotografie vom Set.

© Glaeser

Jürgen Jürges, der schon mit Fassbinder und Wenders arbeitete, berichtet mit leiser Stimme, dass es ihm anfangs nicht leichtfiel. „Wir waren überall dabei. Wirklich überall, das betraf auch die Intimsphäre.“ Jeder Ort im „Institut“ musste ohne Kunstlicht so eingerichtet sein, dass die beiden 35-Millimeter-Kameras auf der Stelle einsatzfähig waren. Immer dann, wenn Jürges dachte, hier drehe ich jetzt – auch wenn er die russischsprechenden Komparsen kein bisschen verstand. Vermutlich auch nicht den wissenschaftlichen Disput, wenn namhafte Mathematiker oder Physiker aus Yale oder Princeton anreisten und über Formeln brüteten – ohne Computer, versteht sich.

Auch Künstler besuchten das Set und „spielten“ mit. Marina Abramovic kam mehrfach. Der Theaterregisseur Romeo Castellucci experimentierte mit Gehirnströmen. Carsten Höller unternahm ein Wahrnehmungsexperiment: Eine Woche lang trugen Probanden eine Upsidedown-Goggle, eine Brille, die das Gehirn rückkorrigiert und den Träger über Kopf sehen lässt. Der Dirigent Teodor Currentzis spielte Landau.

Man wird als Besucher ein Visum beantragen müssen

Etliche der in Charkow beteiligten Künstler und Wissenschaftler werden auch in Berlin auftreten. Aber man weiß nicht, wann Abramovic kommt oder Höller. Es gibt kein Programm, das man unter www.dau.xxx oder gedruckt nachlesen könnte. Es geht nicht um Kunstkonsum, sondern um Erfahrung, sagen die Macher. Und dass die Berliner Fake-Mauer anders als das „Institut“ in der Ukraine kein Reenactment sei, sondern ein Symbol, knapp vier Wochen bis zum ebenfalls symbolischen Abriss am 9. November. Ausgerechnet die Mauer soll einen Freiraum ermöglichen. Für andere Kunsterfahrung. Für größtmögliche Immersion, sagt Kirsten Niehuus. Mit anderen Worten: Vielleicht sieht man was vom „Dau“-Film, vielleicht wohnt man aber auch einem PhysikerSymposium bei.

Konkret sieht es für den „Dau“-Besucher so aus, sollte die Aktion denn genehmigt werden: Man beantragt per Mail ein Visum für ein bestimmtes Zeitfenster, täglich können 1500 bis 3000 Visa ausgestellt werden. Ein Zwei-Stunden-Visum soll 15 Euro kosten, ein Tagesvisum 25, ein 72-Stunden-Visum 45. Es soll auch Diplomaten- und Pressevisa geben. Die Anwohner des Areals, die ihre Zustimmung angeblich alle erteilt haben und sich ungehindert bewegen können sollen, erhalten die Ehrenstaatsbürgerschaft, gratis. Als Rechtsbeistand haben „Dau“ und die Festspiele den Anwalt Peter Raue gewonnen.

Ein immersiver Freiheitsentzug?

Alle anderen Besucher nehmen ihr Visum in der Tiefgarage am Bebelplatz entgegen und tauschen das Handy gegen ein „Dau“-Device. Eine Art Audio-Guide, der einem sagt, wo genau man auf dem Areal hingehen und was man dort tun soll. Der Guide ist personalisiert – weil der Besucher beim Visum-Antrag Auskünfte über sich erteilt hat. Welche genau, blieb bislang offen. Wir kennen dich, nun lerne dich selbst kennen? Es wird viel geraunt am Dienstag im Schinkel Pavillon.

Klingt jedenfalls nach Gängelung. Soll aber größtmögliche Freiheitserfahrung sein. Endlich weg vom gezielten Aufsuchen bestimmter Künstleraktionen. Endlich immersives Erleben von Freiheitsentzug. Thomas Oberender versteigt sich zum Vergleich des historischen Totalitarismus mit dem „Totalitarismus der Algorithmen“, des digitalen Zeitalters. Smartphones als stalinistisches Terrorinstrument, wer hätte das gedacht.

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