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Laika, 1957 die erste Hündin im Weltall.

© picture alliance / dpa/UPI/dpa

"Der Strom" von Angela Krauß: Der Wille zum All

Mit Verneigung vor Weltraumhündchen Laika: Angela Krauß ist in ihrem jüngsten Prosawerk "Der Strom" auf der Höhe ihres Sprachschaffens.

Der vor zwei Jahren verstorbene Schriftsteller John Berger sagte einmal, Zärtlichkeit sei die Verweigerung eines Urteils. Diese urteilslose, zuschauende Zärtlichkeit könnte man auch dem Werk von Angela Krauß nachsagen: die langsame Entfaltung der Weltwirklichkeit in einem poetischen Stil, die geduldige Fürsorge ihres Blicks. Vereinfacht gesagt sind die zahlreichen Lyrik- und Prosabände der 1950 geborenen Autorin aufgespannt zwischen Impulsivität und Passivität. Ihre Figuren sind Reisende und Ausreißende, Betrachter zwischen Ausharren und Aufbrechen.

In ihrem jüngsten Prosawerk „Der Strom“ ist diese paradoxe Dynamik handlungstragend. Denn die namenlose Hauptfigur, eine Dichterin, klagt: „In der Nacht des ersten Januar hatte ich nicht geschlafen. Ein Strom hatte begonnen, in meinem Körper zu pulsieren, an der Grenze zum Schmerz.“ Ihre Unruhe ist so intensiv, dass die Dichterin erstarrt: „Ich verhielt mich ruhig, verharrte in Rückenlage und vermied jede Bewegung. Umso mehr prägte sich mir das Strömen und Rauschen ein.“

Präzise Sezierung von Zuständen

In diesem kurzen Buch ist Krauß auf der Höhe ihres Sprachschaffens. Sie hat Material und Stil so sehr im Griff, dass sich die fadendünn gezeichnete Handlung zu poetisch bewegenden Augenblicken auswächst. So wird das Warten auf einen Paketzusteller zu einem entscheidenden Moment im Leben der Dichterin, denn in ihm steckt Erwartung, und diese „verlangt Zeit, Zeit, um sich selbst gewahr zu werden“. Plötzlich wird alles möglich: „Ich wollte die Welt werden, das All, der Traum, das Unendliche, ohne es vorher verstehen zu müssen. Ein sanfter Wind schlang sich blitzschnell um meinen Körper und entwich nach oben.“

Vom Rauschen, vom titelgebenden Strom, erfahren wir erst im zweiten Drittel des Buchs. Anfangs greift die Erzählung der Zeit voraus und zeigt einen augenfällig ebenfalls unbedeutenden Moment. Die Frau sitzt beim Mittagessen, weit weg von zu Hause, und erwartet ein reichhaltiges Menü. Auch in dieser Konstruktion berührt die Erzählung Gegensätzliches. In ihrem Leben zu Hause folgt die Dichterin einer asketischen Lebensweise, während das Mittagsmahl im Urlaub vom Wunsch nach Übermaß zeugt.

Man kann darin die Pole der Krauß’schen Poetik in Miniaturform ausmachen: eine geschliffene, präzise Sezierung von Zuständen, Objekten und Eindrücken, verbunden mit dem enthusiastischen Einfangen der Überfülle einer schönen Welt. In diesem wie in früheren Werken kehrt die Erzählerin an Erinnerungsgestade zurück, die dieser Rückkehr einen obsessiven Charakter geben. Etwa zum Moment des ersten Kusses mit einem römischen Jungen. So wie dieser Augenblick schon in der schönen Erzählung „Sommer auf dem Eis“ (1998) durchleuchtet wurde, umkreist Krauß auch weitere Versatzstücke des Vergangenen immer wieder und bringt sie in stets neue Gegenwarten und Zusammenhänge.

Laika ist Seelenverwandte vieler Figuren

Auch hier Gegensätzliches: Neben der besessenen Konzentration auf Einzelnes steht die obsessive Weise, mit der diese Bilder wieder und wieder abgespielt werden, sodass allein durch diese gegenseitige Befruchtung abgeschlossener Einzelwerke die individuellen Momente an Größe und Bedeutung gewinnen. Wie in früheren Texten hat auch die Protagonistin von „Der Strom“ ein Herz für ein besonderes Geschöpf der Weltgeschichte. Als sie aus ihrem Zuhause dem Strom zu entkommen sucht und in eine Schneenacht flieht, trifft sie wie im Traum einen Kommandanten, der vor einer alten militärischen Dienststelle erscheint. Mit der apodiktischen Faktizität Kafkas erklärt Krauß nicht, wie dieser erscheint, er ist plötzlich da, und „er verschwand, wie er erschienen war“. Doch nicht dieser Kommandant ist die Faszinationsfigur, sondern das Geschöpf, über die er mit der Erzählerin spricht: „das Weltraumhündchen Laika“, jenes Opfer der Raumforschung, ihrem Namen nach nichts als ein Kläffer, und doch das erste Lebewesen in der Umlaufbahn der Erde, als es 1957 Sputnik 2 betrat und die Welt verließ.

Krauß hat eine Vorliebe für Laika. Sie ist eine Seelenverwandte vieler Figuren. Als der Kommandant sagt, Laika sei ausgewählt worden wegen ihrer gelassenen Art „zusammen mit ihrem Ruhepuls unter Druck und Enge“, fügt die Erzählerin an: „Aber noch in der Kapsel machte sie einen wissbegierigen Eindruck! Es war unübersehbar Vorfreude, mit der sie in die Zukunft flog.“

Angela Krauß: Der Strom. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 93 Seiten, 20 €.

Jan Wilm

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