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Der Heilige Bernardo Tolomei starb in Siena an der Pest. Bis zu seinem Tod hatte er sich um Infizierte gekümmert.

© imago/Le Pictorium

Der Schwarze Tod zu Ostern 1349: Mittelalterliche Pest-Pandemie tötete jeden dritten Europäer

An Ostern 1349 wütete die Pest in Deutschland. Bis 1353 zog die Pandemie durch Europa und brachte den Tod – sie war aber auch die Geburt des modernen Menschen.

Bittprozessionen versuchten, das Unheil noch abzuwenden. Es war vergeblich. Zu Ostern 1349 erreichte der Schwarze Tod die erste große deutsche Stadt, Frankfurt am Main. Ausgerechnet an den Tagen, da der Herr seit Menschengedenken sein Heilsversprechen erneuert.

Schon während des ganzen letzten Jahres rissen die Schreckensnachrichten von den Nachbarn in Europa nicht ab. Niemand auf diesem Erdteil kann sich erinnern, dass Gott die Welt jemals so gestraft hätte. Nur das Alte Testament wusste von vergleichbarem Schrecken. Immerhin, im Winter starben die Leute weniger.

Aber mit dem neuen Frühjahr, der neuen Hoffnung, begann alles von vorn. So auch in Frankfurt: blutiger Husten, schmerzhaft geschwollene Lymphknoten, hohes Fieber, Halluzinationen, Tod oft noch am gleichen Tag. Und hier wie überall in Europa das gleiche Bild: Mütter verließen ihre sterbenden Kinder, Männer ihre Frauen. Und in den Häusern lagen die Toten, die niemand mehr begrub.

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Nicht Weihnachten, Ostern war seit dem frühen Mittelalter das Hauptfest der Christenheit und würde es noch lange bleiben. Tod und Auferstehung des Herrn. Denn das war das Generalversprechen des Christentums: Kein Tod ohne Auferstehung! Und, sehr wichtig: Auferstehung für alle! Nicht nur für die Helden wie im germanischen Walhall. Hätten die Stämme des Nordens ihre alten Götter ohne diese Aussicht je aufgegeben? Nun aber: Karfreitag ohne Auferstehung. Karfreitag für immer? Ließ der Herr seine Welt fallen?

Der Papst predigt vor dem leeren Petersplatz

Dass die Oster-Kirchenbänke in diesem Jahr leer bleiben werden, ist wohl ohne Beispiel in der Geschichte der Christenheit. Und keine Osterprozessionen werden durch Italien ziehen. Der Papst predigt vor dem leeren Petersplatz, was für ein gottverlassener Anblick. Und doch: Die digitale Gemeinde wird sich verbunden wissen, vielleicht mehr als sonst. Lasst uns Gottesdienste streamen! Und sollte es nicht ohnehin Schnittmengen geben zwischen dem digitalen und dem heiligen Geist? Beide vollkommen unsichtbar, gelten sie doch als wirkmächtig über alle Maßen.

Das Coronavirus dürfte die Heilsgewissheit der Christen nicht übermäßig verunsichern. Kein Vergleich mit der Ankunft des Pestbazillus im 14. Jahrhundert. Aber es gibt Gemeinsames: Dass die Nach-Corona-Welt nicht mehr ganz dieselbe sein wird, ahnen heute viele. Doch auch die Pest veränderte den Erdteil. Schuf sie gar das moderne Europa?

Pest, lateinisch pestis, heißt nichts weiter als Seuche. Genauer ließ sich das damals nicht sagen. Die Seuche also. Jede Epoche hat ihre eigene Ökonomie. Im Mittelalter dominierte die Glaubens-Ökonomie alle anderen. Alles konnte durcheinandergeraten, aber diese eine musste unter allen Umständen gewahrt bleiben.

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Unchristliches Betragen oder instinktive Seuchenhygiene?

Die Zeichen standen von Anfang an nicht gut. Im Oktober 1347 waren wie gewöhnlich mehrere Schiffe aus Caffa, der genuesischen Stadt auf der Krim, in Messina vor Anker gegangen. Der Franziskaner Michele da Piazza sah, wie das Volk zur Ankunft der Schiffe zusammenströmte. Und dann geschah das Unvorstellbare. Die zuerst mit den Matrosen sprachen, starben binnen Tagen. Und die mit denen sprachen, die zuerst mit ihnen gesprochen hatten, starben auch. Und ihre ganzen Familien, Freunde und Nachbarn, ja sogar die Haustiere. Da erkannten die Bürger Messinas, dass das rätselhafte Sterben auf die Ankunft der Galeeren zurückging, und trieben die todbringenden Schiffe aus ihrem Hafen.

Zurück auf See trugen die Pestschiffe den Schwarzen Tod an die Küste Italiens. Zuerst traf es Venedig und Genua, die beiden erbitterten Feinde, die um die Vorherrschaft im Mittelmeer stritten. Die Kunde der tödlichen Fracht muss ihnen vorausgeeilt sein, denn Genua ließ seine eigenen Galeeren mit Brandfackeln beschießen, um sie am Anlegen zu hindern. Was für ein unchristliches Betragen, oder sollte man es instinktive Seuchenhygiene nennen?

Die überlebenden Bürger Messinas flohen zu ihren Nächsten, also den Bürgern Catanias. Doch die verweigerten ihnen die Aufnahme. Gebt uns wenigstens die Statue der Heiligen Agatha!, baten sie. Es wäre ein Akt elementarer Glaubenssolidarität gewesen. Aber Catania verborgte keinen einzigen Knochen von Agatha. Kein guter Anfang für das, was Europa bevorstand.

Kein Mensch des Mittelalters kannte Viren und Bakterien

Die Genueser, die ihr eigenen Landsleute mit Brandfackeln beschossen, hätten natürlich auch Schießpulver nehmen können, eine kürzlich gemachte, sehr unfromme Erfindung. Genau wie die Turmuhren. Wollten die Menschen jetzt gar dem Herrn die Zeit nachzählen? War er so zornig wegen all der sich neuerdings mehrenden Übergriffe in seine ureigenen Kompetenz der creatio ex nihilo, der Schöpfung aus dem Nichts?

Die Rede von Bakterien und Viren hätte kein Mensch des Mittelalters verstanden. Sars-CoV-2 ist ein Virus, der Erreger der Pest ist ein Bakterium, Yersinia pestis, das erst Ende des 19. Jahrhunderts identifiziert werden konnte. Viren und Bakterien gab es bereits, als noch keine höheren Lebewesen auf der Erde existierten – wobei vor allem eine Lebensform durch solche Selbstbeschreibungen auffällt. Scheinbar ist es der Ehrgeiz der Viren und Bakterien, in regelmäßigen Abständen zu beweisen, dass sie all diese Spätentwickler zu Staub zerfallen lassen können.

Wobei das Bakterium pestis wohl kaum dulden würde, mit dem Coronavirus Sars-CoV-19 in einem Atemzug genannt zu werden. Zwischen einem Bakterium und einem Virus liegen Welten, es ist der Unterschied zwischen Bandwurm und Mensch, gewissermaßen. Bakterien sind viel größer, fast noch unter einem gewöhnlichen Mikroskop zu erkennen. Sie besitzen eine richtige Zellwand und eine Binnenstruktur, Viren dagegen sind von bestürzender Primitivität, sie können sich nicht einmal selbst vermehren, sie brauchen einen Wirt. So gesehen starben die Menschen des Mittelalters an einer vergleichsweise komplexen Lebensform.

Auch der Papst arbeitete 1349 im Homeoffice

Manche Schiffe schafften es noch bis nach Marseille, obwohl ihre Besatzung kaum mehr Lebende zählte. Und so erreichte der Schwarze Tod schon am 2. Februar 1348 Avignon. Avignon war nicht irgendeine Stadt, sie war die Residenz des Papstes. Clemens VI. war gerade dabei, sich, vom Ablasshandel finanziert, einen riesigen Palast errichten zu lassen, als ihn diese empfindliche Störung traf. Sein Leibarzt kannte das einzige verlässliche Gegenmittel: Flucht, unverzüglich!

Flucht? Der Papst war kein besonders demütiger Mann, er war berühmt für seine Gastmahle, nicht für seinen Glauben, die Wände seiner Gemächer zeigten denkbar unchristliche Szenen der Jagd- und Sinnenfreude. Aber Flucht? Ein fliehender Papst ist nicht gut für die Heilsökonomie. Zumal die Gläubigen den Lebenswandel der Päpste und insbesondere ihre Abkehr von Rom, der Stadt von Petrus, Paulus und der Märtyrer, nun mit anderen Augen sahen.

Sollte gar der Papst schuld sein an der Pest? Petrarca nannte Avignon ohnehin nur das „Babylon des Westens“. Und Clemens VI. blieb. Aber niemand durfte zu ihm. Er arbeitete fortan in Quarantäne, im Homeoffice, umlodert von großen Feuerschalen, die den Pesthauch fernhalten sollen. So hatte der Papst zwar eine permanente Rauchvergiftung, aber nicht die Pest.

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Auch sein Leibarzt Guy de Chauliac blieb. „Aus Furcht vor der Schande“, wird er später notieren. Als am Ostersonntag 1349 auch in deutschen Landen das große Sterben begann, feierte der Papst schon das zweite Fest der Auferstehung in der pestverseuchten Stadt. Einmal forderte das Bakterium 1800 Menschenopfer an nur drei Tagen. Und hier wie überall war bald niemand mehr da, der sie begrub. Die tröstenden Totenglöckchen durften längst nicht mehr geläutet werden. Und viel schlimmer noch: Oft fehlte ein Priester, der ihnen die Sterbesakramente spendete. Denn die es noch taten, lagen bald selbst neben den Toten.

Jeder dritte Europäer starb

Nicht das Sterbenmüssen machte die Seuche für den mittelalterlichen Menschen zur unvordenklichen Katastrophe, galt das Dasein doch als eher missliche Station, als harte Prüfung auf dem Weg zum ewigen Leben oder, im schlechteren Fall, zu den ewigen Höllenstrafen. Umso unmöglicher war es, ungeleitet zu sterben, ohne letzte Beichte, ohne die Segnungen eines Geistlichen. Clemens VI. bewies Geistesgegenwart.

Er erteilte allen Pestopfern Generalabsolution. Die Sterbenden durften jetzt dem letzten Knecht Gottes beichten, ja sogar Frauen, von denen niemand wusste, ob sie überhaupt eine Seele besitzen. Als die Friedhöfe Avignons nicht mehr ausreichten, kaufte der Papst selbst Land vor der Stadt und bezahlte Bauern als Totengräber aus der päpstlichen Schatulle. Aber die warfen die Toten dennoch oft einfach in die Rhône. Also segnete Clemens die Rhône als Friedhof. Schon bald nach Ostern 1348 war die Hälfte der Bevölkerung Avignons gestorben, 7000 gänzlich verwaiste Häuser wurden amtlich versiegelt. Wer hörte noch den österlichen Segen des Papstes, urbi et orbi?

Karfreitag ohne Auferstehung. Bis 1353 zog der Schwarze Tod durch Europa, zerstörte die Grundlagen der mittelalterlichen Gesellschaft. Jeder dritte Europäer starb. Das wäre, gemessen an der heutigen Bevölkerungszahl, als hätte die Pandemie in Europa 250 Millionen Opfer gefordert.

Als der Schwarze Tod fort war, erfasste die Menschen eine unbezwingbare Daseinslust. Und der Drang, die Angelegenheiten in die eigenen Hände zu nehmen. Die Türen zur Renaissance standen weit offen. Das Konzeptionsjahr des Menschen der Neuzeit war das Jahr 1348, das Jahr des Schwarzen Todes“, vermutet Egon Friedell in seiner „Kulturgeschichte der Neuzeit“.

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