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Fang mich! Twenty-Something Julie (Renate Reinsve) ist auf der Suche nach dem coolen Leben im falschen.

© Oslo Film

„Der schlimmste Mensch der Welt“ im Kino: Romantik ist so 2012

Verwirklichst du dich noch oder lebst du schon? Renate Reinsve hat in der Komödie „Der schlimmste Mensch der Welt“ die Qual der Wahl.

Von Andreas Busche

Digitale Indifferenz ist kein technischer Begriff, er bezeichnet nicht etwa eine Störung im WLAN-Netzwerk. Er beschreibt bloß eine soziale Mangelerscheinung, durch ein Übermaß: an Daten, Push-Nachrichten in Apps, Dating-Optionen. Ständig klingt das Handy, immer geht es noch etwas besser. Verwirklichst du dich noch oder lebst du schon? Die hochbegabte Julie leidet ihre ganzen Zwanziger hindurch unter diesem Selbstoptimierungsdruck, sodass sie am Ende ihres dritten Lebensjahrzehnts – nach abgebrochenen Medizin- und Philosophiestudien und einer stagnierenden Karriere als Fotografin – mit einem gebrochenen Lebenslauf dasteht, wie es im Coaching-Jargon heutzutage heißt.

Dieses Syndrom der Generation Y – Romantik ist so 2012 – erhält in Joachim Triers ironischer Komödie „Der schlimmste Mensch der Welt“ (in zwölf Kapiteln, plus Pro- und Epilog) eine knackige Einführung, die die Leiden der jungen J. zu einer pointierten Montage aus Schlüsselmomenten paradigmatischer Unentschlossenheit verdichtet. Kommentiert wird die Sequenz von einer weiblichen Erzählstimme, die genug emotionale Distanz bewahrt, um sich nicht hundertprozentig als Komplizin der Protagonistin erkennen zu geben.

Der Ratatat-Erzählrhythmus des Norwegers Trier und seines Ko-Autors Eskil Vogt („The Innocents“), der den Behavorismus einer Generation, die mit der ständigen Verfügbarkeit des Internets sozialisiert wurde, entwickelt eine unwiderstehliche Reibung, die dem Genre der romantischen Komödie mit seinen monogamen Beziehungsritualen oft abgeht. Fast könnte man meinen, der Film zeige Empathie für Julie und die privilegierten Leiden des seit einigen Jahren im Kino und der Literatur so beliebten Typus der „jungen Frau“. Fast.

Denn so austariert die Dialoge und Situationen im oscar-nominierten Drehbuch von „Der schlimmste Mensch der Welt“ auch sind, Trier und Vogt überlassen die meiste Arbeit ihrer Hauptdarstellerin Renate Reinsve, die beim Filmfestival in Cannes im vergangenen Jahr für die Rolle Julies ausgezeichnet wurde. Reinsve steht eine große Karriere bevor – zweifellos auch, weil die Kritik zuletzt nicht müde wurde zu betonen, dass sie der zwei Jahre jüngeren Dakota Johnson wie aus dem Gesicht geschnitten sei.

Mittelalte Männer erklären jungen Frauen die Welt

Aber Reinsves Strahlkraft geht weit über das bloße Derivat eines Hollywood-Glamours hinaus. Sie verkörpert die erhitzte Euphorie über die mannigfaltigen Möglichkeiten ihrer Selbstverwirklichung wie auch die latente Depression einer permanenten Überforderung mit einer Unbekümmertheit, die den Film in seinen besten – und selbst in seinen schwächeren – Momenten trägt. Es wäre zu leicht, „Der schlimmste Mensch der Welt“ auf die Ménage-à-trois zu reduzieren, in die Julie sich verwickeln lässt: zwischen dem 15 Jahre älteren Comiczeichner Aksel (Anders Danielsen Lie) und dem Barista Eivind (Herbert Nordrum), den sie auf einer Party kennenlernt.

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Die Frage des Beziehungsstatus (ob überhaupt? mit oder ohne Kind?) spielt eine ebenso zentrale Rolle in den Selbstfindungskonflikten wie die Erwartungshaltungen von außen, die im Privaten und Beruflichen zur Überschneidung kommen. Der 30. Geburtstag stellt den dramatischen Kipppunkt dar, an dem auch Triers allwissende Erzählerin wieder einschreitet, um Julie aufzurechnen, was ihre weiblichen Ahnen in diesem Alter schon alles erreicht hatten. (Die Lebenserwartung von Frauen betrug vor 150 Jahren allerdings auch nur 35.)

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Trier und Vogt entwickeln für Julie immer wieder originelle Szenarien einer alternativen Realität. Ihr expliziter Flirt mit Eivind, der gerade so weit geht, dass er nicht den Tatbestand des Treuebruchs erfüllt (darauf haben sie sich zuvor konsensual geeinigt), gehört zu den tollsten Szenen in einer romantischen Komödie seit Ewigkeiten. Und einmal hält Julie buchstäblich die Welt an, um durch ein Tableau vivant ihrer Beziehung mit Aksel zu entfliehen.

(In 15 Berliner Kinos, auch OmU)

Umso erstaunlicher ist es da, dass es Trier trotz so viel Aufmerksamkeit gelingt, seine weibliche Figur sukzessive zu entmündigen. Reinsves Spiel füllt Julie mit einer berauschenden Intensität, aber sie bleibt am Ende nur ein Typus der „jungen Frau“ – noch dazu, ganz originell, mit einer komplizierten Vaterbeziehung. In einer Ayahuasca-Halluzination schmiert sie sich vor dessen Augen Menstruationsblut ins Gesicht.

Man könnte Trier, Jahrgang 1974, hier Vorsatz unterstellen, denn in einer anderen Szene zuvor hatte Julie bereits beim Dinner mit Aksels Freunden und deren Kindern den Gastgeber mit einem rhetorischen Trick das Wort „Mansplaining“ erklären lassen. Die allseits sensibilisierte skandinavische Männlichkeit, man kennt das aus den Filmen des schwedischen Cannes-Gewinners Ruben Östlund, lässt sich von emanzipierten jungen Frauen wie Julie leicht aus dem Konzept bringen. Auch Trier hat das männliche Erklärer-Gen geerbt.

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