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Kultur: Der Osten in der Westentasche

Von „Berlin – Ecke Schönhauser“ zum „Sommer vorm Balkon“: ein Gespräch mit dem Filmautor Wolfgang Kohlhaase

Herr Kohlhaase, Sie sind ein so genauer Beobachter deutscher Befindlichkeiten, dass man sich fragt, wie Sie sich das alles bloß merken können.

Ich habe ein Gedächtnis, wie andere sich Reime merken. Reime sind ja gegen das schlechte Gedächtnis erfunden worden. Ich merke mir Merkwürdigkeiten, kleine Geschichten, Gesten, seltsame Sätze. Aber das Sammeln geschieht unabsichtlich. Es sammelt sich etwas. In „Sommer vorm Balkon“ sitzen Inka Friedrich und Nadja Uhl auf dem Balkon, trinken viel Wodka mit wenig Cola, und die eine sagt: „Es wird gar nicht dunkel heute.“ Darauf die andere: „Es wird schon hell.“ Dieser Satz über den träumerischen Moment in einer wegfließenden Nacht wartete seit 20 Jahren in mir, seit ich das in einer Sommernacht von zwei Frauen gehört hatte.

Merken Sie sich auch Politiker so? Schröder-Gesten? Merkel-Sätze?

Ich merke nur die Anfälligkeit der Politik für Phrasen. Mein alter, aber nicht hinfälliger Vater sah übrigens auf wunderbare Weise immer an den Nachrichten vorbei, auch das habe ich in Dresens Film eingebaut. Er guckte lange hin und sagte: „Dunkler Anzug, weißes Hemd, sieht immer gut aus.“ Das ist wunderbar: aus dem eigenen Weltgefühl heraus die Torheiten der Welt beobachten.

Wie geht Ihr Weltgefühl mit der Geschichte einher? Mit dem Ende des Kriegs war auch Ihre Kindheit zu Ende.

Den Zusammenfall von Weltgeschichte und Pubertät habe ich als ein großes Glück erlebt. Ich wuchs in Berlin auf, mit den Bildern und Redensarten des Kriegs. Wenn Deutschland verliert, ist Schluss, hieß es, das sei der Weltuntergang. Aber als die Russen da waren und es diesen ungeheuren Einbruch einer anderen Realität in meine Berliner Vorortwelt gab, merkten wir alle: Hier fängt etwas an. Und ich fühlte mich zu der heiteren Annahme verführt, dass es meinetwegen geschieht: Ich fing ja auch an! Und ich verschlang die Literatur, die uns verschwiegen worden war. Balzac, Stendhal, Flaubert, Tschechow, Hemingway, später auch Faulkner.

Ihr Vater war Schlosser, wie kamen Sie mit 14 darauf, Romane zu lesen?

Ich entdeckte eines Tages ein in Packpapier gebundenes Buch, „Tom Sawyer“, das war viel aufregender als Karl May. Bei dem hat mich immer gestört, dass die Bösen per Gottesurteil bestraft wurden, statt einfach erwischt zu werden. Das hat mein Gerechtigkeitsbedürfnis nicht befriedigt. Allmählich fing ich an, mir über den Unsinn des Krieges klar zu werden. Und da dieses kritische Nachdenken zum konstituierenden Denken der Ostzone und der späteren DDR gehörte, war ich wieder in einer glücklichen Übereinstimmung mit der Gegenwart. Dass der siegreiche Sozialismus, der mit den Russen einmarschierte, auch ein deformierter war, bemerkte ich erst später.

Sie haben lesend das Schreiben gelernt und waren schon mit 16 Zeitungsredakteur.

Ein Klassenkamerad sagte eines Tages, er habe einen Kriminalroman geschrieben. Die Nachricht, dass man Krimis nicht nur lesen, sondern auch schreiben kann, hat mich überwältigt. Noch am selben Tag habe ich zu Hause auf einem alten Schreibblock mit Feder und Tintenfass einen Kriminalroman begonnen. Er spielte in London, begann mit Nebel und hallenden Glockenschlägen – ich hatte ja Wallace gelesen. Bis Seite 40 gab es zwei abgebrannte Häuser, sieben Tote, aber keine Handlung. Dann verließ mich der Elan.

Wie ist es Ihnen gelungen, Volontär bei der Jugendzeitschrift „Der Start“ zu werden?

Ich habe mich auf einer alten Schreibmaschine bei allen Berliner Redaktionen beworben, als „Volontör“. Ich wusste nicht, wie man das schreibt. Ein Dreivierteljahr davor sagte übrigens ein Freund von mir, er kenne einen schwarzen Sergeant, der Jobs als LKW-Fahrerbegleiter vergebe. Man bekäme Besatzungsmark und könne in der amerikanischen Kantine einkaufen, das bedeutete Zigaretten in Stangen. Wir gingen zu dritt zum Flugplatz Tempelhof und kletterten über den Zaun, weil der Sergeant nicht ans Tor kam. Wir wurden festgenommen, verhört und wieder freigelassen. Das war das Ende meiner amerikanischen Karriere.

Stattdessen fielen Sie als Reporter beim Festakt der DDR-Staatsgründung in Ohnmacht.

Weil ich nicht gefrühstückt hatte. Meine Mutter, bei der ich noch wohnte, gab mir immer sechs Brotschnitten mit und ein Marmeladenglas mit Brotaufstrich, aus wenig Fett, Mehl, angedünsteten Zwiebeln und Majoran. Normalerweise setzte ich mich zu Arbeitsbeginn mit der gesamten Berliner Presse hin und futterte die Stullen. An diesem Morgen sagte aber die Sekretärin, alle seien schon in der Leipziger Straße. Also rannte ich hin, in die drangvolle Enge, ich sah Pieck, dann sah ich nichts mehr. Als Nächstes bemerkte ich, wie ich aus dem Saal getragen wurde. Dann kam Hermann Axen vorbei, der spätere Chef der DDR-Außenpolitik, und sagte zur Kollegin Rosemarie Rehahn, die sich um mich kümmerte: „Ihr achtet schlecht auf eure Kader.“ So hörte ich zum ersten Mal im Leben das Wort Kader.

Schon Ihr erster Film „Alarm im Zirkus“ hatte einen Ost-West-Hintergrund, auch Schlöndorffs „Die Stille nach dem Schuss“. Was wäre aus Ihnen geworden, wenn Sie zufällig im Westen gelandet wären?

Schwer zu sagen, ob ich eine West-Karriere gemacht hätte. Die Grenze war ja noch lange offen, ich habe die Stadt in ihrer Vielfarbigkeit genossen. Ich ging am Ku’damm ins Kino, Schuhe habe ich in Neukölln gekauft. Der Westschuh machte spätestens mit der Kreppsohle das Rennen. Getanzt habe ich in Grünau, ich hatte kaum West-Freundinnen. „Der Start“ war sowjetisch lizensiert. Das hat mich geprägt: lauter Emigranten und Leute, die ihre Schicksale, Gefangenschaft, Zuchthaus, Konzentrationslager, nicht permanent an die Zimmertür hingen.

In einer Ihrer ersten Filmkritiken schrieben Sie: Die Hauptdarstellerin heißt Lotte Koch und filmt. Besser wäre es, sie hieße Lotte Film und kochte. Gute Pointe.

Da war ich vielleicht 17, hatte Alfred Polgar gelesen und Tucholsky. Tucholsky war der politisch radikalere Schriftsteller, aber Polgar war der größere Künstler.

Deutschland 2006 wird von Angela Merkel und Matthias Platzeck regiert. Sind wir alle ostdeutscher geworden?

Dass seit dem Mauerfall nun schon 16 Jahre vergangen sind, will mir irgendwie nicht ins Gefühl. Aber allmählich stellt sich doch eine Realität ein. Offenbar bringt uns die dunklere Seite Deutschlands mehr zusammen als die strahlende. Das verschiebt das Lebensgefühl. Nach der Wende gab es auf beiden Seiten nur falsches Bewusstsein. Die Ignoranz von Seiten der Bundesrepublik war größer, denn sie war ja ohne die DDR ganz gut ausgekommen. Aber die DDR brauchte die Bundesrepublik, auch als Denkübung. Denken geht wie Licht in jede Richtung. Aber in Richtung Westen zu denken war nicht erlaubt. An diesem neurotischen Zustand sind viele buchstäblich krank geworden.

Warum sind Sie daran nicht zerbrochen?

Ich bin aus dem gleichen Grund geblieben, aus dem andere verzweifelt und zu Recht gegangen sind. Außerdem bin ich gern zu Hause. Am Ende stirbt man und hat ein Stück Erde von zehn Quadratkilometern Größe nicht mit der nötigen Geduld gesehen. Und was macht einen Film sozial genau? Dass man sich daran erinnert, was man in den ersten sechs Lebensjahren aus dem Küchenfenster gesehen hat.

Gibt es für Sie noch Ostdeutschland und Westdeutschland?

Der Westen ist für mich immer noch ein unbekanntes Land, über das ich vieles weiß und zugleich sehr wenig. Ich bin nie wirklich in den Alpen gewesen und war bis vor vier Jahren nie an der Nordsee. Ich liebe auch den Gedanken, dass man den Limes noch spüren kann: Geschichten haben immer Vorgeschichten. Aber mich interessiert die Nähe mehr als die Ferne.

„Sommer vorm Balkon“ ist dort gedreht, wo auch Ihr Defa-Film „Solo Sunny“ entstand. Das ostdeutsche Lebensgefühl ist ein gesamtdeutsches geworden: Arbeitslosigkeit, Zukunftsangst, Überlebenskampf.

Man lebt nicht bequem, aber man lebt kräftig, das ist in Prenzlauer Berg bis heute so. „Solo Sunny“ hat die Mauer nicht gezeigt, aber ihr Schatten liegt auf dem Film. „Sommer vorm Balkon“ kann die Mauer nicht mehr zeigen; aber Dresens Film erzählt, dass man an einen Ort gehört, von dem man nicht leicht weggeht. Man lebt in Bindungen, in denen beides steckt, das fatalistische Moment und die Chance. Beim Filmemachen kommt immer etwas vom eigenen Lebensgefühl hinein. Ich entdecke das in vielen Filmen der jüngeren Regisseure, nicht nur bei Andreas Dresen: Da meldet sich die Welt, die große Geschichte in kleinen Stoffen.

Viele westdeutsche Filmemacher erzählen neuerdings DDR-Geschichten, von „Good Bye, Lenin!“ bis zu Dominik Grafs „Der rote Kakadu“ über die Zeit des Mauerbaus, der auf der Berlinale laufen wird. Warum sind diese Stoffe jetzt interessant?

Vielleicht mischen sich linke Enttäuschungen und neue Entdeckungen. Bestimmt gibt es Tragödien und auch Komödien, die nie erzählt wurden. Vieles ist noch nicht erledigt. Aber ich bin nicht sicher: Bleibt die DDR ein sich fortzeugendes Land? Wer will von ihr hören?

Liegt ein Hauch von Defa über dem deutschen Film?

Nur, wenn man unter Defa versteht, dass sie versucht hat, Kino und Wirklichkeit in einer Beziehung zu sehen. Die Konflikte in der DDR kamen ja genau daher: Die Politik wollte das anfangs auch, aber sie litt zunehmend unter Realitätsverlust und wollte der Wirklichkeit nicht ausgerechnet im Kino begegnen.

Die DDR war ein unverreistes Land, haben Sie gesagt.

Und sie war ein ausgedachtes Land, das sich nicht über Geld regeln wollte, sondern seine Existenz gleichsam für naturgegeben hielt. Die Gesellschaft erklärt ja ihre Erscheinungsformen gerne wie ein Naturrecht. Bei der Globalisierung ist das auch wieder so. Aber auf der ersten Seite der Zeitung lese ich: „Debakel. 4000 Leute entlassen“, und auf der Wirtschaftsseite lese ich dasselbe als Erfolgsmeldung. Und dazwischen suche ich die Seite, die das vermittelt. Aber dazwischen steht bestenfalls die Filmkritik. Wobei ein guter Film diese Vermittlungsarbeit durchaus leisten kann.

Kino als Fortsetzung der Politik mit besseren Mitteln?

Gutes Kino, gute Literatur löst sich am Ende von den Voraussetzungen ihres Entstehens. Kunst kommt aus einem Lebensgefühl. Aber was bleibt, wenn sie etwas taugt, ist absichtslose Schönheit.

– Das Gespräch führte Christiane Peitz.

ZUR PERSON

Wolfgang Kohlhaase, geboren 1931 in Berlin, arbeitete nach dem Krieg zunächst bei der Jugendzeitschrift „Start"“und bei der

Jungen Welt . Seit über 50 Jahren schreibt er Drehbücher und gehört zu den wichtigsten deutschen Filmautoren. In der DDR arbeitete er unter anderem mit den Defa-Filmern Gerhard Klein („Berlin – Ecke Schönhauser“, 1957) und Konrad Wolf („Ich war 19“, 1967), ihr Film Solo Sunny (1980) genießt Kultstatus.

Nach der Wende war er Ko-Autor bei der TV-Verfilmung der Tagebücher von Viktor Klemperer und erzählte für Volker Schlöndorffs Die Stille nach dem Schuss (2000) die Geschichte einer in der DDR untergetauchten RAF-Terroristin. Am Donnerstag kommt sein jüngster Film ins Kino:

Bei der Berliner Alltags-Tragikomödie

Sommer vorm Balkon mit Nadja Uhl und Inka Friedrich führte Andreas Dresen Regie.

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