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Kennt sich gut aus in Italien. Der Berliner Schriftsteller Peter Schneider, 79.

© picture alliance / dpa

Der neue Roman von Peter Schneider: Mit Vivaldi die Kunst der Andeutung üben

„Vivaldi und seine Töchter“: Peter Schneider erzählt vom ersten weiblichen Orchester der Welt.

Das vielleicht populärste Frauenorchester der Moderne hat es nie wirklich gegeben. Es sind die flotten Damen aus Billy Wilders Kinokomödie „Manche mögen’s heiß“, mit Sugar Kane alias Marilyn Monroe an der Spitze. Tragisch und real war hingegen das in der Mördergrube zum Spielen gezwungene Mädchenorchester von Auschwitz, diese größte Perversion der Musikgeschichte.

Offenbar nicht zum allgemeinen Bewusstsein gehört freilich das überhaupt erste der Nachwelt überlieferte, aber jahrhundertelang vergessene weibliche Orchester der Welt. Der (Be-)Fund, den der Berliner Schriftsteller Peter Schneider jetzt mitteilt, wirkt umso überraschender, als der Orchestergründer und Hauskomponist jener Musikerinnen und Sängerinnen kaum berühmter sein könnte. Es ist Antonio Vivaldi, dessen „Jahreszeiten“ zu den meistgespielten, von der Werbung bis zur tönenden Kaufhauskulisse allgegenwärtigen Musikstücken zählen.

Der Venezianer Vivaldi (1678 - 1741), Sohn eines Violinvirtuosen, den er selbst bereits früh an Talent noch übertraf, hat rund 800 Werke geschrieben: neben seinen Instrumentalkonzerten auch über 50 inzwischen seltener aufgeführte Opern. Um die vielköpfige Familie zu unterstützen, wurde Antonio jung in die Arme der Kirche gedrängt.

Bis Anfang des 20. Jahrhunderts war Vivaldi fast vergessen

Wobei der wegen seiner roten Haare „prete rosso“ genannte Priester zeitlebens der Verpflichtung zu entkommen suchte, die Messe zu lesen. Als widerwillig akzeptierte Entschuldigung diente seine asthmatische Kurzatmigkeit – als besserer Grund seine Begabung als Kaplan der Kirche Santa Maria della Pietà immer neue geistliche Musiken zu komponieren.

Der an der Riva degli Schiavoni nahe dem Dogenpalast gelegenen Kirche angeschlossen war eines der venezianischen Waisenhäuser für Mädchen, denen Vivaldi von früh an Musikunterricht gab (heute ist dort das Hotel „Metropole“). Mit den begabtesten jungen Frauen – Mädchen ab zwölf Jahren galten bereits als heiratsfähig – bildete er sein Orchester samt Chor.

Vivaldis Schöpfung hat damals über Venedig hinaus in ganz Europa einen eigenen und aus heutiger Sicht sonderbar vergänglichen Ruhm gewonnen. Jedenfalls war der einst hochgeschätzte Komponist bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts als Maestro fast vergessen. Für sein Orchester gilt das, außer unter wenigen Experten, noch heute. Genauer: bis jetzt zum Erscheinen von Peter Schneiders neuem Buch „Vivaldi und seine Töchter“. (Kiepenheuer & Witsch, 288 Seiten, 20 €.)

Zwar steht auf dem mit einer Canaletto-Szene geschmückten Umschlag noch klein das Wort „Roman“, aber der Innentitel lautet „Roman eines Lebens“. Was zu Recht mehrdeutiger klingt. Denn diese erzählerische Vivaldi-Biografie ist eine unterhaltsam-lehrreiche Dokufiktion. Ein Buch, das auch frühere Vivaldi-Forscher und einen mit dem Autor an die authentischen Stätten flanierenden Cicerone würdigt.

Schneider reflektiert so seine eigene Annäherung an die Geschichte, und wenn er sich den „Roman“ jenes Lebens oder, besser gesagt: einzelne nicht dokumentierte, aber durch eigene Interpretation erhellte Lebensmomente ausmalt, dann geschieht dies im so nachdenklichen wie bewusst phantasievollen Gestus des: Ich stelle mir vor...

Ist Vivaldi ein barocker Humbert Humbert?

Auch die Vorgeschichte des vielschichtigen Buchs spielt dabei eine Rolle. Manches wirkt wie ein Filmstoff, dem die Geschichte tatsächlich entsprungen ist. Schneiders Freund Michael Ballhaus, der 2017 verstorbene große Kamerakünstler, war vor etlichen Jahren schon auf Vivaldis wenig bekannte, vielfach im Dunkel liegende Biografie gestoßen und schlug Volker Schlöndorff einen Vivaldi-Film vor.

Das Drehbuch dafür hat eben Peter Schneider geschrieben, der Sohn eines Komponisten und Kapellmeisters, der selber von Kindheit an Geige spielt. Aus dem Film aber ist trotz oder wegen mehrerer wechselnder Produzenten (bisher) nichts geworden. Dafür Schneiders Buch.

Von den in der Gegenwart spielenden Partien ist eine der schönsten, wie Ballhaus und der Autor die schon zu Lebzeiten Vivaldis ungeklärte Frage diskutieren, ob das Mädchen Anna Girò, Vivaldis dreißig Jahre jüngere Schülerin, Sopran-Primadonna und Lebensgefährtin, auch seine Geliebte war.

Das so ungebärdige wie kluge Mädchen hat an Vivaldi gehangen, und er selbst mit dem priesterlichen Keuschheitsgelübde gehadert. Aber haben, wie es sonst „tutti quanti“ taten, die beiden je miteinander geschlafen? Schneider fragt: „Vivaldi als ein barocker Humbert Humbert, der sich für seine Annina-Lolita verzehrt....?“

Ballhaus und der Autor kommen überein, dass die „Kunst der Andeutung“ das Beste an einem Liebesfilm sei, „kein Sex, eher unendliche Sehnsucht“ – während eine Mitarbeiterin der Produktionsfirma auf das aktuelle Grundproblem noch vor Zeiten von MeToo, aber eingedenk der kirchlichen Missbrauchsfälle aufmerksam macht: Die Liebe zwischen einem Priester und einer Minderjährigen, das gehe im Kino nun gar nicht mehr. Auch nicht als historischer Stoff.

Geendet ist Vivaldi in einem Wiener Armengrab, wie 50 Jahre später Mozart.

Peter Schneiders Vivaldi-Porträt zeigt dennoch viel Kolorit der Epoche, ohne dick aufzutragen. Statt Übermalung bloß das Ausmalen des immer wieder skizzenhaft Erfassten, Entdeckten. Es herrscht ein besonnener Ton. Doch weil es um Musik und im mal karnevalesk, mal alltagskulturell schwirrenden, finten- und intrigenreichen Venedig auch um ein Theater des (Künstler-)Lebens geht, gibt es mitunter witzig grandiose Szenen.

Etwa die Schilderung der Barocktheater-Usancen, als Vivaldi aus der reinen Kirchenmusik in die Welt der Oper ausbricht und für seine junge Primadonna Anna Stücke und Arien entwickelt. Barockoper bedeutet nach dem Willen der damals sieben in Venedig mit ihren Bühnenbildeffekten und Theatermaschinerien konkurrierenden Opernhäuser: Feuer- und Liebesbrünste, Erdbeben und Vulkanausbrüche, himmlische höllische Leidenschaften in tropischen Dschungeln oder antiken Palästen und zum Finale eine irdische Erlösungen an heimischen Ufern. So ungefähr.

Eine lektorische Anmerkung: Wenn mehrmals vom „Canale“ statt Canal Grande die Rede ist, wird das nicht am italienischkundigen Autor liegen. Es gibt noch ähnliche Detailfehler, die sollte der Verlag in diesem klugen Buch korrigieren.

Ein über Zeiten gespannter Bogen, auch zu den Vivaldi-Fans von Bach bis Mozart, von Rousseau bis Ezra Pound. Geendet ist Vivaldi in einem Wiener Armengrab, wie 50 Jahre später Mozart.

Literatur aber wird hier auch zum musikalischen Lehrbuch, indem Peter Schneider wie nebenbei in Vivaldis Kompositionen Vorwegnahmen von Jazz-Elementen entdeckt oder den „Trick“ beschreibt, „die E-Saite während des Spiels (...) höher zu stellen, um dann Laute hervorzubringen, die man auf der Geige noch nie gehört hat“. Wirklich: eine unerhörte Geschichte.

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