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Bewandert in den eigentümlichen Sprachen des Herzens. Die schottische Erzählerin und Essayistin A.L. Kennedy. Foto: Mauritius/GL Portrait/Alamy Stock

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Der neue Roman von A. L. Kennedy: Mein Name sei Niemand

Sie ist eine Magierin der absonderlichen Lieben: die Schottin A. L. Kennedy und ihr neuer Roman „Süßer Ernst“.

Freundlichkeit könnte helfen. Freundlichkeit, Sanftmut, zirpende Signale der Beruhigung, irgendetwas Beschwichtigendes, das die Angst dämpft. Eigentlich hat Jon wahrlich anderes zu tun, als frühmorgens im Garten seiner verreisten Ex-Frau eine kleine Amsel in Händen zu halten, um sie unter den wachsamen Augen und panischen Rufen ihrer Mutter in Sicherheit zu bringen. Dass ihm das pulsierende Wesen auch noch auf die Hose kackt, in der Farbe der Heidelbeeren, in deren Schutznetz es sich verfangen hatte, fehlte ihm gerade noch. Wo soll er nun noch schnell vor der Arbeit eine frische Hose herbekommen? In seinem alten Kleiderschrank finden sich nur die hässlichen Anzüge seiner Nachfolger. Also muss er eilends in ein Kaufhaus und dann endlich, endlich ins Ministerium, wo er arbeitet. Die Ankunft dort fühlt sich überraschenderweise jeden Morgen wie „Heimkehr“ an.

Jon Corwynn Sigurdsson, der auf mittlerer Führungsebene arbeitet, ist bekannt für seine (Um-)Formulierungskünste. Noch aus dem größten Mist macht er etwas Positives. Doch allmählich hält er die an Lüge grenzende Wirklichkeitsverdrehung nicht mehr aus. Er ist ein aufrechter Zeitgenosse, dem die soziale Kälte zusetzt, all die „geplagten Seelen“ rund um Westminster, an deren Unruhe er die politischen Spannungen ablesen kann. Es ist ein Freitag im April, es muss der April des Jahres 2016 sein, also zwei Monate vor dem Referendum, das über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU entscheiden wird und bis heute die politische Agenda beherrscht. Jon hat an diesem Tag ohnehin schon zu viel vor, wie immer. Aber es kommt etwas hinzu, das ihn in den allerhöchsten Alarmzustand versetzt. Er will am Nachmittag eine Frau treffen, die ihm unerwartet nahegekommen ist. Und diese Meg, die einmal Wirtschaftsprüferin war, ist mindestens so neurotisch wie er.

Die Liebesgeschichte, die sich zwischen den beiden seelisch Schwerverwundeten entspinnt, ist mit ihrem ganzen Zögern, Zaudern und Verheddern, mit ihrem Zweifeln und Verzweifeln von erschütternder Dynamik und Kraft. Vor dem Hintergrund des auseinanderkrachenden Gesellschaftsgefüges entwickelt sie eine erschreckend deutliche Plastizität. Auf diese leuchtend verschrobene Weise kann das nur die großartige Schottin A.L. Kennedy: dieses Tiefseetauchen in dunkelste Gefühle, diese Sehnsucht nach Süßem und Zartem, die sie ohne den geringsten Kitsch ausreizt, diese schroffe Darstellung sozialer Wirklichkeit, diese Härte der Existenz – Absturz, am Boden sein, hochrappeln.

Ein Tag, eine Nacht: wie "Ulysses" von Joyce

Wie der „Ulysses“ von James Joyce spielt auch „Süßer Ernst“ (Serious Sweet) an einem Tag und in einer Nacht. Nur dass der Schauplatz bei der 1965 in Dundee geborenen Schriftstellerin London ist und nicht Dublin. Meg ist trockene Alkoholikerin. Während Jon das Treffen im Lauf des Tages immer weiter nach hinten verschiebt, weil ihm immer noch einmal etwas dazwischenkommt, wird der Tag für sie zum Hürdenlauf der Selbstbeherrschung. Dabei beginnt er auch bei ihr nicht anstrengungslos.

Schon lange hatte sie einen Termin für eine gynäkologische Kontrolluntersuchung im Krankenhaus. Und weil Termine schwer zu bekommen sind, wollte sie ihn wegen einer Verabredung nicht absagen. Doch die Untersuchung erweckt die Ängste und den Schmerz der Biopsie wieder, die sie ein halbes Jahr zuvor wegen ihrer Sucht ohne Vollnarkose überstand. Die Vorstufe von Krebs scheint zwar beseitigt – und damit auch „der Tod im Vorstadium“ –, aber es ist dennoch entwürdigend, dass der Arzt in ihrem Unterleib herumfuhrwerkt wie in einem „Bergwerk“, um am Ende zu verkünden, die einzigen Veränderungen, die er sähe, seien „menopausaler Art“.

A.L. Kennedy schenkt ihren Figuren nichts und gibt ihnen gerade dadurch ihr spezielles Format. Meg ist Mitte vierzig, Jon Ende fünfzig, seinen Körper findet er „unappetitlich“, nackt will er sich niemandem zeigen. Beide haben eine Heidenangst verletzt zu werden, überhaupt ist die Angst ihr vorherrschendes Lebensgefühl. „Wenn man geliebt wird, ist man sicherer, also muss man Liebe wecken“, weiß Meg, die im Büro eines Tierheims arbeitet und diese Weisheit am Verhalten eines misshandelten Spaniels abgelesen hat. Seit ungefähr zwei Jahren ist sie trocken und raus aus der schlimmsten Depression. Deren trübes Braun hatte selbst die Luft ergriffen, Braun wie die Wände und Einrichtung ihres ererbten Elternhauses, Braun „wie Ochsenschwanzsuppe mit Wahnsinn drin“.

A. L. Kennedy zeichnet auch eine Topografie von London

Jon muss an diesem Tag eine Menge Dinge tun, die er sich nicht ausgesucht hat. Sein Vorgesetzter gockelt herum, macht ihn fertig und schickt ihn zu einem Treffen mit einem abgehalfterten Journalisten, um ihn abends um acht auch noch in seinen Club zu zitieren. Zu allem Unglück ruft im größten Trubel seine erwachsene Tochter an und schluchzt ins Telefon. Der Vater eilt herbei, kocht Suppe, tröstet wortreich und freut sich insgeheim, dass sie ihren Freund hinausgeschmissen hat.

Dass er heimlich im Badezimmer mit seinem Büro telefoniert, muss er ebenso verbergen wie die gehetzten Telefonate mit Meg. Die hört noch, wie er behauptet, er spreche mit „Niemand“. Prompt fühlt sie sich beim passenden Namen genannt.

Zeitleiste. Das Cover von A.L.Kennedys neuem Roman
Zeitleiste. Das Cover von A.L.Kennedys neuem Roman

© Hanser

Zwei Menschen unter massivem Druck erschließen die Stimmung im London der Gegenwart. Der Roman zeichnet auch eine Topografie der Stadt, von Westminster bis zum Telegraph Hill, von der London Bridge bis zu Loughborough Junction und hinaus zur Monkey World in Dorset. Dabei wird die Handlung immer wieder von Szenen unterbrochen, die sich im öffentlichen Raum abspielen.

Da stürzt eine ältere Dame auf der Rolltreppe über ihren Hund und ein Dutzend Menschen kommt herbeigerannt, um ihr zu helfen; da führt ein Vater in einem Café liebevoll seine kleine Tochter vor und nennt allen ihren Namen; oder eine ältere Frau sitzt mit einem kleinen Jungen, vielleicht ihrem Enkel, auf dem Oberdeck eines Doppeldeckerbusses und stützt ihr Kinn so sanft auf dessen Scheitel, dass sie vollkommen glücklich aussieht. Am Ende erfahren wir, dass Meg diese Szenen notiert hat, um sich an „Süßem“ aufzurichten.

A. L. Kennedys Liebesgeschichte ist eine Zitterpartie - bis zum Schluss

Weil er es satthat, dass soziale Fürsorge nicht mehr als Recht, sondern als Privileg gilt, plaudert Jon Informationen aus. Und er betreibt seine eigene Form von Fürsorge. Per Anzeige bietet er seine Dienste als Briefschreiber an: „Maßgeschneiderter Service: Handgeschriebene Briefe nach den Bedürfnissen der anspruchsvollen Frau. Zuneigungsbekundungen und Respekt wöchentlich geliefert. Antwort nicht erforderlich.“ Meg war eine der Adressatinnen, und sie hat ihm nicht nur geantwortet, sondern auch am Postfach auf ihn gewartet. Die Liebesgeschichte des von Ingo Herzke und Susanne Höbel nuancenreich übersetzten Romans bleibt bis zum Schluss eine Zitterpartie. Einen ganzen Tag und mehr als 500 Seiten lang gibt Kennedy ihrem männlichen Helden Zeit, um mit der Nähe fertig zu werden, die er auf Papier erschaffen hat.

Nach „Alles was du brauchst“, „Also bin ich froh“ und „Das blaue Buch“ brilliert A. L. Kennedy mit „Süßer Ernst“ ein weiteres Mal als die große Magierin der absonderlichen Liebe. Sie ist die Zauberkünstlerin der ins Innere vordringenden Worte und der kleinen Gesten. Dass sie die erstaunlichste Liebesprosa schreibt, während sie einen politischen Roman vorantreibt, dem es weder an Witz noch an Schärfe und erst recht nicht an Wut und Mitgefühl mangelt, ist eines der Wunder dieses außerordentlichen Romans.

A. L. Kennedy: Süßer Ernst. Roman. Aus dem Englischen von Ingo Herzke und Susanne Höbel. Hanser Verlag, München 2018. 560 Seiten, 28 €.

Meike Feßmann

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