zum Hauptinhalt
Streicheleinheiten. Onegin (Tilman Strauß) mit den Schwestern Tatjana und Olga Larin (Eva Meckbach und Luise Wolfram). Foto: J. Fieguth

© Joachim Fieguth

Kultur: Der nackte Säbel

Die Kunst des Duells: Alvis Hermanis inszeniert Puschkins „Eugen Onegin“ an der Schaubühne.

Alexander Puschkin muss ein amüsanter Archivar gewesen sein. Über die 113 Frauen, die er vor seiner Eheschließung angeblich liebte, soll der russische Nationaldichter akribisch Tabellen geführt haben. Mit dieser anregenden Information beginnt Alvis Hermanis’ Puschkin-Inszenierung „Eugen Onegin“ in der Berliner Schaubühne.

Das Schauspieler-Quintett, dem wir derlei biografische Auskünfte verdanken, lümmelt im Alltagslook zwischen stilechten Petersburger Frisierkommoden, Betten, Salontischen und Büchersammlungen des 19. Jahrhunderts, die Andris Freibergs und Elena Zykova mit enormer Detailliebe aufs Szenario gewuchtet haben. Denn man nähert sich – ein probates Mittel auf gegenwärtigen Theaterbühnen – der knapp zweihundert Jahre alten Puschkin-Story dezidiert aus heutiger Perspektive. Das heißt: Dank Sneakers- und Schluffi-Optik stellt man zunächst einen maximalen Kontrast zum Dandy Onegin, der unglücklich in ihn verliebten Teenagerin Tatjana, ihrer Schwester Olga und dessen jugendlichem Geliebten Lenskij her. Je weiter der Abend dann voranschreitet, desto tiefer lässt man sich in den kanonischen Versroman hineinfallen, indem man die Jeans mit großer Geste gegen Mieder und Knickerbocker tauscht.

Der lettische Regisseur Alvis Hermanis, der seit vielen Jahren regelmäßig an Matthias Lilienthals Kreuzberger HAU gastiert, am Wiener Burgtheater unlängst Tschechows „Platonow“ herausbrachte und nun erstmals an der Berliner Schaubühne inszeniert, fügt dieser populären Textaneignungsmethode allerdings noch zwei weitere Ebenen hinzu. Zum einen erzeugt er mittels an die Bühnenwand projizierter zeithistorischer Gemälde eine zusätzliche ironische Differenz zu den live stattfindenden Rekonstruktionsaktivitäten: Geschichtsschreibung als ewige, mehr oder weniger gelungene Projektion sozusagen.

Und zum zweiten stellt Hermanis der „Onegin“-Geschichte, die im Bewusstsein vieler Kulturkonsumenten vor allem als opulente Tschaikowski-Oper verankert ist und in der man sich nach allen Regeln der Kunst duelliert, ostentativ in Theatern langweilt, auf Bällen herumscharwenzelt und auf glücklich ererbten Landgütern abhängt, eine Art kulturgeschichtliches Proseminar zur Seite. Immer wieder steigen die Schauspieler aus der Erzählung aus und klären über damalige Hygienenormen, Miedermoden oder Kommunikationsregeln auf.

Stellen sich etwa Tilman Strauß als Onegin und Sebastian Schwarz als Lenskij zum Duell auf, gibt Robert Beyer nicht nur den standesungemäßen Sekundanten, sondern liefert vor dem tödlichen Schuss schnell noch ein astreines Kurzreferat zur korrekten Größe, Marke und Aufbewahrungstechnik der archetypischen Duellwaffe. Und Eva Meckbach und Luise Wolfram berichten von weiblichen Benimmregeln oder Briefvordrucken für sämtliche Lebenslagen, während sie in die Kleider der Schwestern Tatjana und Olga Larin schlüpfen.

Weil Hermanis und sein Rechercheteam augenscheinlich Wert auf Konkretion und gute Pointen gelegt haben, fallen bei diesem anfangs noch etwas hölzern wirkenden Infotainment unterhaltsame Details ab. Zum Beispiel die Information, dass Puschkin sich zeit seines 38-jährigen Lebens 28-mal duelliert hatte, bevor er an den Folgen des 29. Zweikampfs starb. Oder dass Frauen sich ebenfalls duellierten, allerdings mit Säbeln statt mit Pistolen, und dabei zumindest in Frankreich gern vollständig entkleideten. Unbedingt wissenswert ist natürlich auch die Tatsache, dass der gemeine russische Mann im Kampf gegen den gefürchteten Winter seine Unterhose mit Fell zu füttern pflegte, welches sich im Laufe der Zeit symbiotisch mit dem Schamhaar verband, und dass Frauen bei ihren „reihenweisen“ Ohnmachtsanfällen auf choreografische Perfektion achteten: stilecht zu Boden gegangen wurde ballettös über links. Ratgeber-Medien gab es übrigens auch schon: „Gähnen Sie im Theater!“, empfahlen etwa die Trend-Statuten für ein erfolgreiches Dandytum. „Schenken Sie der Aufführung keinerlei Aufmerksamkeit!“

Kurz: Hermanis und das Schaubühnen-Ensemble, das sich zwischen den historischen Exkursen augenzwinkernd in die Oneginschen Liebesposen, Schmachtchoreografien und Zylinder-Slapsticks wirft, haben Puschkins ironischen Tonfall, der den Text aus heutiger Perspektive erstaunlich staubfrei wirken lässt, bühnentechnisch korrekt verdoppelt. Nicht mehr und nicht weniger. Dabei ist diese mit sehr zartfühlendem, bisweilen fast etwas bravem Spott zur Schau gestellte historische Rekonstruktion als Inszenierungsansatz nahe liegend. Hinzu kommt, dass der sportliche 100-Minüter, zu dem Hermanis „Eugen Onegin“ strafft, sich in seinem ironischen Volkshochschulcharme zusehends erschöpft und Gefahr läuft, zum bühnenaktionistischen Bremsklotz zu werden.

Spätestens, wenn Onegin nach langen abstinenten Jahren Tatjana zufällig in Moskau auf einem Ball wiedertrifft und sich nun seinerseits unsterblich in die mittlerweile zur Generalsgattin aufgestiegene Salondame verliebt, möchte man kein Wort mehr über formvollendete Kratzfüße hören.

Wieder heute und morgen sowie vom 25.-27.12., 19.30 Uhr.

Zur Startseite