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"Der Menschenfeind" von Molière in der Inszenierung von Anne Lenk, miz Ulrich Matthes, Manuel Harder, Lisa Hrdina, Franziska Machens, Jeremy Mockridge, Elias Arens

© Arno Declair/ Deutsches Theater

"Der Menschenfeind" am DT: Dekorativ in Seilen hängen

Am zivilisatorischen Fortschritt interessiert: Anne Lenk inszeniert Molières „Der Menschenfeind" am DT mit Ulrich Matthes als Alceste.

Sie können ja nicht viel, die Galane aus Molières „Menschenfeind“. Der schwer begriffsstutzige Oronte (Timo Weisschnur) zum Beispiel, dessen Jogginghosenbeine im Berliner Deutschen Theater in weißen Tennissocken stecken, scheitert kläglich als Liebeslyriker. Mit einem Machwerk, in dem sich „spröde“ auf „öde“ reimt. Und der geistige Horizont von Orontes Kollegen Acaste (Jeremy Mockridge) und Clitandre (Elias Arens) ist sogar noch enger. Er endet schon bei den eigenen Luxusschuhspitzen.

Eines allerdings beherrschen die Höflinge allesamt tadellos in Anne Lenks Inszenierung; in dekorativer Lächerlichkeit in den Seilen zu hängen. Florian Lösche hat einen schwarzgrauen Bühnenkasten mit elastischen Wänden gebaut, die aus lauter straff gespannten Strippen bestehen. Darin kann man sich nicht nur wunderbar verfangen oder akrobatische Scharmützel austragen. Sondern die dicht an dicht platzierten Seile lassen sich auch bestens für Selbstoptimierungsübungen zweckentfremden. Klimmzüge sind ja nicht ganz unwesentlich, wenn man abendfüllend über sein erotisches Kapital sinniert; namentlich über die Chancen bei der attraktiven Jungwitwe Célimène, der hier alle verfallen sind.

Nur besteht die größte Qualität der elastischen DT-Bühnenwände darin, dass man sie nach Belieben zurechtbiegen kann. Denn um Gelenkigkeit, im allerweitesten Sinne, geht es ja in Molières Komödie aus dem 17. Jahrhundert. Beziehungsweise um ihr Gegenteil: Einen ausdrücklich unflexiblen Misanthropen, der - zumindest qua Selbstdefinition - der allgegenwärtigen Kriecherei den bedingungslos aufrechten Gang entgegensetzt.

Alcestes Kumpel Philinte wird von Manuel Harder dargestellt

Im DT spielt Ulrich Matthes diesen „Menschenfeind“, Alceste. Und zwar nicht als Wahrheitseiferer und Prinzipienreiter, sondern eigentlich eher als verkappten Philanthropen: Da steht, jedenfalls zunächst, ein Grübler mit Denkerstirnfalten auf der Bühne, der irgendwie ernsthaft interessiert scheint am zivilisatorischen Fortschritt der Spezies. Und selbiger wird ja durch realistische Leistungseinschätzung und Faktentreue bekanntlich deutlich aussichtsreicher befördert als durch Lobhudelei, Tatsachenbeschönigungen und das hemmungslose Abfeiern schlechter (Lyrik-)Performances - von wegen „spröde“ und „öde“.

Dass man es aber auch übertreiben kann mit dem Wahrsprechen und Moralisieren – nämlich dann, wenn man das Handlungsziel nicht mehr vom puren Prinzip zu unterscheiden schafft, was ja wiederum tatsächlich eine der schwersten Menschheitsoperationen überhaupt ist: Das weiß Alcestes Kumpel Philinte. Den stellt Manuel Harder als Fleisch gewordenes Realitätsprinzip auf die Bühne.

Und das ist wirklich ein toller Auftakt dieses pausenlosen Neunzigminüters: Wie Matthes und Harder hier als personifizierte Idealo- beziehungsweise Realo-Flügel über die Vor- und Nachteile sozialer Konventionen disputieren. Wie sie die produktiven und die destruktiven Kräfte der Wahrheit in Stellung bringen und über dem Authentizitätsimperativ aneinandergeraten. Ernsthaft und komisch zugleich; mit lässig ausgespieltem Witz und tiefer liegendem Erkenntnispotenzial. Da kann man, übrigens unter den Augen der Bundeskanzlerin, die im Premierenpublikum sitzt, punktuell durchaus mal die dreieinhalb Jahrhunderte vergessen, die uns von Molière trennen. Und das, obwohl hier in gereimten Versen (nach der Übersetzung von Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens) debattiert wird.

Célimène selbst schiebt sich übrigens zusehends ins Zentrum dieser Inszenierung

Sieht man von einem Oronte-Selfie vor Misanthropen-Hintergrund oder von Célimènes Abhotten zu Techno-Beats im Kreise der versammelten Verehrer einmal ab, verzichtet Regisseurin Lenk ausdrücklich auf Aktualisierungsmaßnahmen. Im dunklen Bühnenkasten, der bestens zu den thematisch sinnigen Schwarz-, Weiß- und Grautönen der Kostüme (Sibylle Wallum) passt, spielen der Text beziehungsweise die ihn pointierenden Schauspieler die Hauptrolle.

Wobei es immer ausdrücklich plakativ wird, wenn die bewusst auf Komödie gebürsteten Célimène-Verehrer Oronte, Acaste und Clitandre mit ihren Langhaardackelfrisuren, Schmalzsträhnen oder Rüschen-Blousons auftreten, zur sichtlichen Freude des Publikums übrigens, das die Premiere am Ende euphorisch beklatscht.

Célimène selbst schiebt sich übrigens zusehends ins Zentrum dieser Inszenierung. Franziska Machens spielt sie maximal frei von gekünstelter Koketterie; mit einer Art tiefenentspanntem Authentizitätscharme. Und zwar im Kostüm eines schwarzen Engels bei gleichzeitiger barfüßiger Unschuld. Sozusagen als feministische Vorreiterin vom Hofe, die sich herzlich wenig um gesellschaftliche Korsette schert und alles vom Leben nimmt, was sie will; und seien es synapsenentschleunigte Langhaardackel als Spielzeuge.

In den Verbalkämpfen mit dieser Frau, seiner Angebeteten, löst sich die schöne Ambivalenz des wahrheitssuchenden Charakters Alceste denn auch vollends auf: Er entlarvt sich - Anne Lenk akzentuiert dieses Thema stark - als besitzergreifender Macho. Da bleibt keine Frage offen - und Célimène nur die Möglichkeit, mit einem letzten pointierten Spruch durch die elastische Seitenwand zu flüchten.

Wieder am 4., 16. und 20. April

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