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Das 1881 entstandene Pozzi-Porträt des US-Malers John Singer Sargent. Der Pariser Arzt Samuel Pozzi lebte von 1846 bis 1918.

© Bridgeman Images

"Der Mann im roten Rock" von Julian Barnes: Ärzte, Künstler und Monteprousts

Der englische Schriftsteller Julian Barnes porträtiert den berühmten Pariser Gynäkologen Samuel Pozzi - und erzählt die Geschichte der Belle Époque.

Julian Barnes scheint sich sehr unsicher gewesen zu sein, mit welcher Figur und welchem Thema er beim Schreiben seines Buches „Der Mann im roten Rock“ einsteigen sollte. (Aus dem Englischen von Gertraude Krüger. Verlag Kiepenheuer &Witsch, Köln 2020. 300 Seiten, 24 €.)

Nur über diesen Mann schreiben, den er da 2015 in London in der National Portrait Gallery auf einem Gemälde des amerikanischen Malers John Singer Sargent so schön, so elegant und so viril gefunden hat, das wollte er unbedingt. Allein, weil dieser einen so passenden, so makellosen roten Rock trägt!

Aber gab es nicht noch viel mehr zu sagen zu dieser Zeit, in der jener Mann gelebt hat? Samuel Pozzi, der für Sargent als „Dr. Pozzi at Home“ 1881 Modell stand, war nicht nur ein berühmter Pariser Arzt, ein Gynäkologe, sondern auch Kunstsammler, Frauenheld und Lebemann mit vielfältigsten Beziehungen zu Adeligen und Künstlern.

Pozzi war Kunstsammler, Lebemann und Frauenheld

Er versuchte unablässig, die Medizin voranzubringen, ließ sich aber auch gern in den Salons von Paris sehen oder besorgte seine Vorhangstoffe bei Liberty´s in London.

So räsoniert Barnes zu Beginn seines Buches genau darüber, womit er dieses nicht alles beginnen könnte: mit einer Reise von Pozzi und zwei von seinen Freunden 1885 nach London; mit einem Aufenthalt Oscar Wildes in Paris 1884; vielleicht auch mit einer Kugel, weil so viele Kugeln in jener Zeit nicht zuletzt bei Duellen abgeschossen wurden. Oder doch mit einer gynäkologischen Operation, die zu Anfang des 19. Jahrhunderts in den USA erfolgreich durchgeführt wurde?

Barnes entschließt sich dann doch, zunächst Sargents Gemälde genauer zu inspizieren und zu beschreiben und den Mann im roten Rock schon mal kurz vorzustellen. Denn das kann er, das hat er gerade erst in seinem Essayband "Kunst sehen" bewiesen, der zahlreiche Bildbetrachtungen berühmter Bilder enthält.

Samuel Pozzi schrieb in sein wegweisendes Lehrbuch der Gynäkologie auch den in diesem Zusammenhang eher ungewöhnlichen Satz: „Chauvinismus ist eine Erscheinungsform der Ignoranz“.

Und so weiß sein Biograf über den Arzt, der 1846 in der Dordogne zur Welt kam: „Er war patriotisch, diente im Deutschen-Französischen Krieg – wo er unheldenhaft verwundet wurde, als ein von Pferden gezogener Sanitätswagen über seinen Knöchel fuhr – und später im Ersten Weltkrieg. Aber chauvinistisch war er nie. Wenn die berufliche Wahrheit im Ausland zu finden war, dann suchte er sie dort. Das Argument, dass Ärzte etwas auf eine bestimmte Art machten, weil sie Franzosen waren und die Franzosen das schon immer so gemacht hatten, konnte ihn nicht überzeugen.“

Anfang der 80er wandelte Barnes in den Spuren Flauberts

Julian Barnes kommt Pozzis Bonmot über den Chauvinismus wie gerufen. 1946 in Leicester geboren, hat er seit jeher ein Faible für Frankreich. Er wurde mit dem auf den Spuren Flauberts wandelnden Roman „Flauberts Papagei“ Anfang der achtziger Jahre bekannt, gehört inzwischen zu den profiliertesten Schriftstellern auf der Insel (inklusive Booker Prize 2011 für "Das Ende einer Geschichte), und ist auch als Übersetzer von französischer Literatur hervorgetreten, unter anderen der Bücher von Alphonse Daudet.

„Der Mann im roten Rock“ zeichnet das Bild einer Epoche: der Schönen Epoche, der „Belle Époque“, wie die Zeit von den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg genannt wird.

Und im Zentrum dieses Bildes stehen unter anderem die englisch-französischen Beziehungen im Bereich der Kunst und der Gesellschaft, und da steht der Dandy als anglofranzösische Erscheinungsform.

So kommt Barnes ständig wieder ab von Pozzi, der nur "fast ein Dandy“ war, und beschäftigt sich zum Beispiel intensiv mit dessen Gefährten auf der Reise nach London, dem Prinzen Edmond de Polignac und dem Grafen Robert de Montesquiou-Fezensac.

Während der Musiker und Komponisten Polignac eher zurückhaltend porträtiert wird, avanciert Montesquiou zu einer zweiten Hauptfigur dieses Buches. Aus gutem Grund: Montesquiou war als Spross einer begüterten Adelsfamilie und symbolistischer Dichter mit allen gut bekannt, gerade in der Literaturszene, mit Autoren wie Stéphane Mallarmé, Paul Verlaine oder Marcel Proust, oder mit dem britischen Maler James McNeill Whistler.

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Er schrieb mit „Les Pas effacés“ eine ausufernde, dreibändige Autobiografie; vor allem repräsentiert er die schillernde Pariser Belle-Époque Szene und deren Charakter: ein Dandy bis ins Mark, geschmackvoll bis ins Groteske, eitel, oberflächlich, zynisch, aggressiv, neidisch, hinterhältig, zuvorkommend, freundlich, feierwütig.

Was dieser Graf, der D´ Artagnan zu seinen Ahnen zählte, überdies war: das Vorbild für den Helden Des Esseintes aus Joris K. Hysmans Roman „Gegen den Strich“, neben Oscar Wildes „Das Bildnis des Dorian Gray“ eine der Blaupausen für die Literatur des Fin de siècle.

Des Esseintes „war“ Montesquieu schreibt Barnes, „das wusste die ganze Welt. Und ich wusste es auch, denn als ich mir 1967 die englische Taschenbuchausgabe von ,À Rebours’ kaufte prangte auf dem Umschlag der Kopf aus Boldinis Porträt von Le comte Robert de Montesquiou."

Doch war er auch das Vorbild für Figuren weiterer Romane, insbesondere für Prousts Baron de Charlus. Das amüsierte Montesquieu nicht gerade, obwohl er sich irgendwann damit arrangierte. So kalauerte er kurz vor seinem Tod 1922, dass man ihn allmählich vielleicht „Monteproust“ nennen sollte.

Manchmal erinnert dieses Buch an "1913" von Florian Illies

Und auch Barnes schlussfolgert: „Einem Menschen konnte, das sah der Graf ein, Schlimmeres widerfahren, als nach dem Tod für eine wichtige Figur in einem Meisterwerk gehalten zu werden.“ Barnes hält viele solcher Anekdoten parat; das Personal seines Buches ist riesig, von Henry James über Oscar Wilde und Jean Lorrain bis zu den Gebrüdern Daudet und den Gebrüdern Goncourt; gerade letztere und ihre berühmten Tagebücher bieten für Barnes immer wieder Gelegenheit, sich Gedanken über das Wesen von Klatsch und Tratsch und seine Rolle als Biograf zu machen.

Nach und nach bekommen auch die Frauen ihre Auftritte: die Schauspielerin Sarah Bernhardt (Prousts Berma!), Montesquious Cousine Élisabeth Greffulhe, die Gräfin Anna de Noailles. Insbesondere aber Pozzis Frauen: seine Gattin Thérèse, die sich spät von ihm scheiden ließ, auch die „Die Stumme Pozzis“ genannt, weil von ihr kaum was überliefert ist, sie nicht schrieb; seine Tochter Catherine, die mit ihren Tagebüchern, aus den Barnes fast ein bisschen zu viel zitiert, das Gegenteil ihrer Mutter war; und auch die Geliebte von Pozzi, mit der er alljährlich auf Europatour ging, eine ebenfalls verheiratete Frau, Emma Fischoff.

Ach ja, und überhaupt: Wie verläuft denn nun das Leben von Samuel Pozzi? Barnes kommt durchaus regelmäßig auf ihn zurück, auf seine Verdienste als Mediziner, auf Pozzis Familienvaterdasein, seine zahlreichen Seitensprünge. Trotzdem wirkt diese gesamte Epochenporträt manchmal etwas sprunghaft.

Beispielsweise wenn Barnes eine Operation Pozzis an einem Jungen beschreibt, eine Laparatomie, also eine Eröffnung des Bauchraumes, um übergangslos wieder zu Hysmans’ Roman „Gegen den Strich“ zu kommen.

Plädoyer für Europa

Bisweilen sind Überschriften in den Text eingelassen, ohne dass man wüsste, warum gerade hier oder worin ihre Bedeutsamkeit besteht. Doch wie soll man der Vielzahl der Personen, Ereignisse und Anekdoten jener Zeit beikommen? Vielleicht ist eine gewisse Formlosigkeit da geradezu kongenial.

„Der Mann im roten Rock“ hat kaleidoskopischen Charakter, nicht zuletzt dank seiner wunderbaren Ausstattung mit den vielen Fotos und Gemälden der Figuren, sowie den kleinen Bildchen der „Célébrités Contemporaines“, die seinerzeit in den Schokoladetafeln von Felix Potin lagen.

Barnes' Buch erinnert an die beiden Bücher über das Jahr „1913“ von Florian Illies. Es unterscheidet sich von diesen jedoch wohltuend, da der englische Schriftsteller sich fiktive Einfühlungen versagt, er sich streng an Tagebücher, Biografien und Autobiografien hält.

Und er überdies häufig das Verhältnis von Literatur und Fiktion thematisiert, von Biografien und der Wahrheit der ihnen zugrunde liegenden Lebensbeschreibungen, kulminierend in dem Satz: „Wir wissen es nicht“. Den Barnes wiederum, „sparsam gebraucht“, für „eine der stärksten Aussagen in der Biografensprache hält.“ Was ihn nicht davon abhält, diesen Satz am Ende inflationär zu gebrauchen, so viel Ironie muss sein.

Obwohl man also schon auch den Eindruck hat, bei der Lektüre hie und da ein ziemliches Durcheinandertal zu betreten, bereitet „Der Mann im roten Rock“ viel Vergnügen, merkt man Barnes den Spaß an, den er bei der Recherche und an dem Leben seiner Figuren hatte. Dass das Buch sich gleichfalls als Kommentar zu den Brexitanstrengungen seiner Landsleute lesen lässt, als Plädoyer für Europa, deutet Barnes im Nachwort selbst an.

Für ihn ist Pozzi „so etwas wie ein Held“, von dem sich auch heute viel abschauen lässt. Wie das erfüllte Leben des Arztes 1918 endet, ist nochmal eine Überraschung, die Barnes abermals mit viel Ironie und Sinn fürs Entlegene aufbereitet. Man könnte auch von einem Knalleffekt sprechen.

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