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Kultur: Der Hai und die Kindsmörderin

Londons Royal Academy hat seine "Sensation": So heißt die Ausstellung mit junger britischer Kunst - die wegen angeblicher Obszönität umstritten ist. Nach der Eröffnung gab es gestern ein Attentat.

Londons Royal Academy hat seine "Sensation": So heißt die Ausstellung mit junger britischer Kunst - die wegen angeblicher Obszönität umstritten ist. Nach der Eröffnung gab es gestern ein Attentat.VON BERNHARD SCHULZAls erstes erblickt der Besucher, der dieser Tage die Ausstellungsetage der Londoner Royal Academy betritt, einen Hai.Zum Glück befindet sich er sich in einem Aquarium; aber es ist eben doch, face to face, ein Hai.Der Hai ist das Symbol der "jungen britischen Kunst".Sie selbst ist ein Markenbegriff geworden; ihre Protagonisten genießen als "YBAs", abgekürzt für Young British Artists, mittlerweile Kultstatus.Den Hai hat Damien Hirst 1991 verfertigt: einen toten Hai, nahezu unsichtbar aufgehängt in einem mit grünlicher Formaldehydlösung gefüllten Stahl-Glas-Tank.Naturwisssenschaftliches Objekt oder Kunstwerk? Gag? Ernsthafte Aussage oder kalkulierte Provokation? Das sind Fragen, wie sie die YBAs lieben.Seitdem diese neue, in den sechziger Jahren geborene Generation von britischen Künstlern 1988 mit einer ersten, in einem verlassenen Lagerhaus in den Londoner Docklands veranstalteten Ausstellung schlagartig auf sich aufmerksam machte, sind diese zu Lieblingen der Medien aufgestiegen; mehr übrigens als zu solchen des Kunstmarktes, der sich ihrer meist provozierenden Werke zunächst eher zurückhaltend annahm. Wäre da nicht Charles Saatchi.Der Werbe-Tycoon, der sich nach dem glanzvollen Aufstieg und zeitweiligen Niedergang der gemeinsam mit seinem Bruder gegründeten und geleiteten Werbeagentur "Saatchi & Saatchi" bei der geschäftlichen Neuorientierung wieder auf finanziell sicherem Boden befindet, ist der Medici der YBAs.Seine Sammlung soll um die 1500 Werke umfassen, von denen die Hälfte der jungen britischen Kunst zuzurechnen ist.In seinen, mit britischem Understatement unter "Saatchi Gallery" firmierenden Ausstellungshallen im Nordwesten Londons - einem makellos hergerichteten, einstigen Auslieferungslager - kam Hirsts eingelegter Hai 1991 zu seinem ersten, triumphalen Auftritt.In mehreren Ausstellungen stellte Saatchi seither Teile seiner in legendären "Beutezügen" aufgekauften Kollektion vor.Jetzt erhält seine Sammlertätigkeit die höchste Weihe: Saatchi bespielt die Royal Academy. Die Ausstellung heißt schlicht "Sensation", und Sensation machte sie bereits vor ihrer Eröffnung am Donnerstag dieser Woche.Anlaß waren einige Werke der 110 Arbeiten umfassenden, zu großen Teilen durch Saatchis Ausstellungen bereits bekannten Stücke, die von konservativer Seite inkriminiert werden.Da ist zum einen das monumentale, nach einem Polizeifoto gearbeitete Portrait der Kindesmöderin Myra Hindley von Marcus Harvey.Nicht allein daß, sondern mehr noch wie Harvey seine Fotovorlage zum Drei-Meter-Sechzig-Gemälde vergrößert hat, erregte Protest: nicht in der Art von Rasterpunkten wie der Amerikaner Chuck Close, die sich im Auge des Betrachters zu einem Bild formen, sondern zusammengesetzt aus Abdrücken einer Kinderhand, die, aus unmittelbarer Nähe betrachtet, ein abstraktes Schwarz-Grau-Weiß-Feld bilden.Erbitterte Angehörige wollten darin eine zynische Verhöhnung der Opfer erblicken, und Besucher haben es gestern zu zerstören versucht, mit Farbtinte bespritzt und mit Eiern beworfen.Nun ist das Bild so in eine der ehrwürdigen Hallen der Royal Academy plaziert, daß es durch vier Säle hindurch, optisch gerahmt von den dazwischenliegenden Türstürzen, zu sehen ist.Und dann gibt es - zweiter Anstoß - einen Raum, der für Minderjährige gesperrt werden mußte, weil die Brüder Jake und Dinos Chapman eine als allzu obszön empfundene Gruppe ihrer bekannten Kunststoff-Mutanten ersonnen haben; pubertierende Kinder, die überall wie siamesiche Zwillinge zusammengewachsen sind und zudem die Geschlechtsteile an den Köpfen tragen oder gar mitten im Gesicht. Soweit zur Erregung öffentlichen Ärgernisses.Davon drang bei der feuchtfröhlich-festlichen Eröffnung nichts mehr in den Innenhof von Burlington House.Die Diskussion wird sich jetzt, da die Ausstellung für jedermann zugänglich ist, auf die Frage nach der Qualität und Dauerhaftigkeit der Sensations-Kunst richten.Und der Besucher wird bemerken, daß bei weitem nicht alle Arbeiten dem kalkulierten Ausstellungstitel "Sensation" entsprechen.Sicher, da gibt es Hirst en masse: den erwähnten Hai gleich im achteckigen Kuppelsaal, seine zersägten und in Teilen oder gar Scheiben in entsprechenden Stahl-Glas-Kästen konservierten Kühe und Schweine wiederkehrend im Ausstellungsparcours; ferner eine Installation, wo Fliegen schlüpfen, sich von einem verwesenden Rinderkopf ernähren und schließlich an einem elektrischen Insektenvernichter zugrunde gehen: der gesamte Lebenszyklus, eben nicht nur sinnbildlich, sondern real vor den Augen der Betrachter.Gleichwohl können die Schmeißfliegen nicht auf dieselbe, bis zur Empörung sich steigernde Anteilnahme rechnen wie die die zerlegten Haustiere. Nicht der Künstler gibt eine Stellungnahme ab, sondern der Betrachter ist gefordert - und fühlt sich vom Künstler unangenehm alleingelassen.Es ist weniger die Immoralität, als vielmehr die Amoralität vieler der beteiligten vierzig Künstler, die in der Öffentlichkeit als schockierend empfunden wird; oder zumindest doch ihre Ambivalenz.Die Arbeiten können so oder so verstanden werden.Protest, Engagement gar, ist den YBAs fremd.Sie vollziehen in ihren Werken, was der Thatcher-Generation - die allmählich an die Schaltstellen rückt - generell zu eigen ist: cool zu sein unter allen Umständen, ironisch, spielerisch, auch zynisch, positiv gesagt: großstädtisch; und negativ: hemmungslos selbstbezogen. Und erfolgreich.Jedenfalls gilt das für den Augenblick; und die Künstler wissen es und sind von vorneherein darauf eingestellt.Auch darin gleichen sie den Popstars (die wiederum, jedenfalls in Großbritannien, in erstaunlicher Vielzahl ihre Sammler sind).Von der "jungen britischen Kunst" war auch als "Britpop" die Rede.Die Affinitäten zur - gegenwärtigen, nicht der mittlerweile historischen - pop culture sind unübersehbar.Alles steht zur Verfügung; an Inhalten, an Techniken.High oder low, die von der historischen Pop-Art noch zelebrierte Frage, ist keine mehr.Trash ist Kunst und Kunst ist heutzutage trash.Dabei zeigen die YBAs eine bemerkenswerte Könnerschaft.Sie produzieren, handwerklich betrachtet, mitnichten trash, sondern ausgefeilte Kunstwerke.Hat man die kalkulierte Sensationsmache überstanden, zeigen sich in den Hallen der Royal Academy reife Arbeiten in den unterschiedlichsten Medien, wobei die oft totgesagte Malerei in der persönlichen Auswahl von Charles Saatchi weit obenan rangiert und in Fülle und Vielfalt vertreten ist.Das Spektrum reicht von den geometrisch-abstrakten Tafeln eines Gary Hume über die expressiv-figurativen Frauenakte der Jenny Saville und die schreiend bunten Assemblagen von Chris Ofili bis zu den hyperrealistischen Ikonen von Mark Wallinger, der die der britischen Nation so teuren Rennpferde lebensgroß unter dem Titel "Race Class Sex" vorstellt. Und es zeigt sich auch, daß die junge britische Kunst nicht durchweg moralisch indifferent ist.Es kommt auch auf die Zusammenstellung an.Einer der besten Räume der Ausstellung kombiniert die weiße Negativ-Abformung des Zimmers eines viktorianischen Hauses durch die renommierte Turner-Preisträgerin Rachel Whiteread mit den schonungslosen Familienfotos des Unterschicht-Sprößlings Richard Billingham.Präziser und zugleich lakonischer läßt sich die britische Klassenstruktur wohl nicht im Medium der Kunst fassen. So bleibt denn am Schluß die Frage nach dem Zusammenspiel von Künstlern, Sammler und öffentlicher Institution.Ohne Saatchi - darin sind sich auch die kritischsten Vorberichte zur "Sensation"-Ausstellung einig - hätte es die junge britische Kunst nicht in dieser Breite und Fülle gegeben; viele Künstler haben schlicht von seinen Käufen gelebt, und das über Jahre hinweg.Andererseits ist die Macht, die eine Sammlung von derartigem Volumen auf dem Kunstmarkt ausüben kann (und in der Vergangenheit auch bereits ausgeübt hat), beunruhigend.Entsteht die Kunst, damit Charles Saatchi sie kauft? Vergeht sie, wenn er ihrer überdrüssig wird wie vor Jahren der Bilder des einst hochgehandelten Italieners Sandro Chia? Und ist es Aufgabe der Royal Academy, einer Privatsammlung die Bühne zu bieten und damit höhere Weihen zu erteilen? Nun sind dies keine neuen Fragen.Es gibt sie so lange, wie es Privatsammler gibt - und öffentliche Institutionen, die auf ihre Kollektionen angewiesen sind.Die Dauerhaftigkeit der jetzigen BritPop-Welle wird sich zeigen, wenn die Künstler nicht mehr im Rampenlicht der Medien stehen.Der Royal Academy bleibt derweil der gelungene Coup, mit "Sensation" Sensation zu machen - und auf ihre Weise am Erfolg der YBAs teilzuhaben. London, Royal Academy, Piccadilly, bis 28.Dezember.Katalog 21,95 Pfund.

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