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Kultur: Der fremde Herr in unserem Haus

Warum die Psychoanalyse nicht totzukriegen ist: Heute vor 150 Jahren wurde Sigmund Freud geboren

Sein 150. Geburtstag fällt in eine Zeit, die ihm wieder mal mit Anerkennung begegnet. Das macht die Hirnforschung, die Sigmund Freuds Vorstellungen vom Unbewussten und dem Bewusstsein, von Ich und Es für anschlussfähig erklärt. Hirnforschung gilt in den zuständigen Kreisen gegenwärtig als geoffenbarte Wahrheit – dass die Psychoanalyse die neuesten Erkenntnisse in dieser Richtung ignoriere, lieferte vor ein paar Jahren die besten Gründe für substanzielle Zweifel an Freud.

Er hat ja stets gehofft, dass sich seine Konstruktion des „psychischen Apparates“ eines Tages naturwissenschaftlich untermauern lassen werde. Ist es jetzt so weit? Und welche Folgen sind zu gewärtigen? Werden die Psychoanalytiker von der „Talking cure“ – wie die berühmte Patientin Anna O. die Freud’sche Methode taufte – ablassen und zu gezielten chirurgischen Eingriffen ins Gehirn übergehen, wenn die neue Topik weit genug erforscht ist? Freuds zentrale Entdeckung war, dass man sich den Geheimnissen der Seele am besten durch Reden (und Zuhören) nähert. Insofern stand er, der sich immer als Naturforscher sah, der Belletristik näher als der Hirnphysiologie. Und in der während der zwanziger und dreißiger Jahre tobenden Debatte über die „Laienanalyse“, ob Analytiker notwendig Naturwissenschaftler, Mediziner sein müssen, war seine Antwort eindeutig: Nein.

„Ich“, das ist: „der Redende“, heißt es, psychoanalytisch aufgeklärt, in Lars Gustafssons Romanzyklus „Risse in der Mauer“ (eben neu aufgelegt) über die siebziger Jahre. Sie brachten den letzten mächtigen Schub in Freuds Wirkungsgeschichte nach dem Krieg. Die rebellierenden Studenten, die eine neue Kindererziehung und einen neuen Menschen projektierten, klar; Raubdrucke längst verschollener Schriften überschwemmten die Büchertische – doch lagen solche Ideen auch den fortgeschrittenen Kadern des Establishments nahe und fanden so Eingang in Grundüberzeugungen, die noch heute gelten.

Man konnte ja noch anknüpfen an Präsenzen: Das Berliner Psychoanalytische Institut – einst das allererste auf der Welt und für alle anderen vorbildlich – war in den frühen fünfziger Jahren neu entstanden, indem es sich von den Kollegen trennte, die während des Dritten Reiches unter dubiosen Bedingungen an einer neuen deutschen Seelenkunde mitzuwirken versucht hatten. Diese authentische Berliner Psychoanalyse war von der internationalen anerkannt worden, und von hier aus ergaben sich Verbindungen, die einige sogar nach London, in das Institut Anna Freuds brachten, einer winzigen alten Dame von großer Strahlkraft.

Eine kleine Industrie, nun ja, ein Gewerbezweig beschäftigt sich immer noch damit, Freuds Lehre zu widerlegen. Die denunziatorische Biografik hört nicht auf zu blühen – ebenso wenig verschwinden die schwärmerischen Offenbarungen eines wahren, all die Jahre böswillig verkannten Freud: In diesem Sinn hat Manfred Pohlen zum Jubiläumsjahr die Aufzeichnungen eines gewissen Ernst Blum, der 1922 bei Freud war, verhimmelt, als handle es sich um die Schriftrollen von Qumran (Freuds Analyse. Die Sitzungsprotokolle Ernst Blums, Rowohlt Verlag, 398 Seiten, 22,90 €).

Die stürmische Wirkungsgeschichte des Mannes wie seiner Lehre hängt mit der Sache selbst zusammen. Freuds Entdeckungen bilden kein gleichsam kaltes Wissen, dem man sich in philologischer Neutralität nähern könnte. Das Unbewusste, wie Freud es konzipierte, besitzt einen völlig anderen Wallungswert als Kants Kategorien oder Hegels Weltgeist. Am nächsten kommt es Marx’ Kapital, und es mag sein, dass Nietzsches frühe Leser sich von seinen Schriften in derselben Weise agitiert fühlten, in einem Ausmaß, das über normale philosophische Lektüre weit hinausweist.

Freud hat auch diesen Vorgang konzeptuell zu fassen versucht. Er hat ihn „Übertragung“ genannt und 1905 in einer seiner großen Krankengeschichten „Bruchstück einer Hysterie-Analyse“, dem Fall Dora, zum ersten Mal beschrieben. Der Analytiker muss erkennen, dass die Analysandin, statt mit seiner Hilfe ihre Erinnerung zu rekonstruieren, das Drama mit ihm wieder aufzuführen strebt. „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“ ist 1914 ein technischer Text zur analytischen Kur überschrieben.

Solche Übertragungsbeziehungen unterhält man zu allen Personen, denen affektiv Bedeutung zukommt, im täglichen Umgang ebenso wie im Geistesleben und in der Imagination. Dass Männer in ihren Ehefrauen die Mutter zu traktieren neigen, gehört schon zum Alltagswissen; aber auch Texte, die ihre Leser heftig engagieren, verwickeln sie in solche fantasmatischen Übertragungen.

Schon gar Freud und seine Schriften. Es würde lohnen, einmal deren Wirkungsgeschichte nach der Formel vom „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“ zu beschreiben. Generell, scheint es, kann man die Beziehung, die sich zu Freud aufzubauen pflegt, mit einer anderen berühmten Formel fassen. Die stürmische Wirkungsgeschichte, die „Widerstände gegen die Psychoanalyse“ (1925) erklären sich aus ihrem Zentraltheorem, „dass das Ich nicht Herr ist in seinem eigenen Haus“. Okay, sagt die Traumlogik, die hier herrscht, aber wer ist dann Herr in meinem Haus? Und immer wieder kommt als Antwort: Freud. Eine Inthronisierung, die zu Unterwerfung und Verklärung ebenso führen kann wie zu erbitterter Rebellion nach dem Motto: Indem ich Freud vor die Tür setze – mittels denunziatorischer Biografik oder erkenntnistheoretischer Grübelei – habe ich mich selbst reinthronisiert. Eine unendliche, unabschließbare Arbeit.

Man hat gesagt, es sei Freud gelungen, die wissenschaftliche Reflexion über Seelenvorgänge endlich auf das Niveau zu bringen, das die großen Romane des 19. Jahrhunderts auszeichnet. Dass er selbst ein außerordentlicher Schriftsteller war, dass seine Texte immer wieder ästhetisch funktionieren, von der Freude an überraschenden und gelingenden Formulierungen getragen werden; dass das Werk sich in der Entfaltung seiner Begrifflichkeit und in der Dichte seiner Verweisungen auf geradezu epische Weise Zeit nimmt – das alles gehört zu den zusätzlichen Vergnügungen, die das Studium bietet.

Die Untersuchungen, die Freuds Einfluss auf die Literatur und Kunst des 20. Jahrhunderts nachgehen, füllen eine eigene Bibliothek. Das Spektrum reicht vom Surrealismus, der sich direkt auf ihn berief, bis nach Hollywood. Italo Svevos Roman „Zeno Cosini“ (1923) entwickelt sich anhand der Figur des Analytikers ebenso wie Philip Roths „Portnoys Beschwerden“ (1969) und Adolf Muschgs „Albissers Grund“ (1974). Das neuerdings so fruchtbare Genre der amerikanischen TV-Serie lässt in „The Sopranos“ eine Analytikerin auftreten (dargestellt von Lorraine Bracco), die sich (fast) korrekt nach den Kunstregeln verhält (und entsprechende Erfolge erzielt – bei einem Mafiaboss).

Von wem im anhaltenden Rauschen der Geburtstagsreflexionen noch nicht angemessen die Rede war: Woody Allen. War seine persönliche Abhängigkeit vom Analytiker zunächst komisch und Gegenstand von herablassendem Klatsch; verkörperte der urbane Neurotiker, wie er ihn gab, erst einmal die Gestalt, die wir unbedingt hinter uns lassen müssten, um zu Autonomie und Souveränität zu gelangen – so imponiert inzwischen Woody Allens filmisches Werk als avancierte Weisheitslehre, die Freud ihre Existenz und Plausibilität verdankt. Der moderne Großstadtbewohner wird unabänderlich und unablässig vom Rumoren seines Unbewussten erschüttert und getrieben. Dagegen hilft nur die die selbstironische Einsicht in dieses Getriebensein, der Verzicht auf jeden Versuch, im eigenen Haus die Macht zurückzugewinnen.

Michael Rutschky

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