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Belle de jour. Catherine Deneuve ist Claire Darling, eine alte Dame auf dem Land, die all ihre Sachen verkauft.

© Neue Visionen

"Der Flohmarkt von Madame Claire" im Kino: Die Geister sind los

Catherine Deneuve entrümpelt ihr Chateau und raucht viele Zigaretten: Julie Bertuccellis wunderliches französisches Familiendrama „Der Flohmarkt von Madame Claire“.

Mitten im Leben sind wir von Erinnerungen umfangen. Von den Dingen, in denen die Vergangenheit steckt, den Geistern, die einen behelligen. Es sind freundliche, flüsternde Geister darunter, aber auch düstere Wesen, Nachtmahre, die einem den Schlaf rauben können. Claire Darling, Madame Claire, hält eines Morgens eine Ansprache an all ihr Hab und Gut im alten Chateau. An die Elefantenuhr mit dem zur vollen Stunde wackelnden Haupt, an die Puppen mit dem leise quietschenden Aufziehmechanismus, den Zauberer, der seinen Kopf in eine Kiste stecken kann, den Holz-Akrobaten auf seiner Leiter, die Ölgemälde mit der Ahnengalerie, den Schreibtisch mit der Geheimschublade, den ausgestopften Flamingo und die aufgespießten Schmetterlinge.

Adieu, meine Lieben, sagt Madame Claire, für euch fängt jetzt ein neues Leben an. Sie hat geträumt, dass sie sterben wird, noch heute. Also schafft sie mit ein paar jungen Männern all ihre Möbel und Sachen raus in den Garten. In Frankreich ist die Erinnerung nicht selten ein Flohmarkt. Die Leute lieben diese vide-greniers auf den Dörfern in der Provinz, sie kommen von weither, um schöne alte Dinge abzustauben, von privat zu privat. Alles muss raus: Und weil Madame Claire von Catherine Deneuve gespielt wird und die Regisseurin Julie Bertuccelli heißt, geschehen auf diesem Flohmarkt wunderliche Dinge.

Anders als zuletzt etwa in André Techinés Berlinale-Beitrag „L’adieu à la nuit“, versteift sich Deneuve nicht im Wissen um ihr Image als Ikone des französischen Kinos, sondern spielt souverän damit. Man weiß nicht, ob Madame tatsächlich etwas altersverwirrt ist oder ob sie die anderen nur in diesem Glauben wiegt. Die 75-jährige Deneuve hält es schön in der Schwebe. Sie trägt Blumenkleid und schlohweißes Haar, pariert neugierige Fragen nach dem Flohmarkt mit einem knappen „Nennen Sie es Nervenzusammenbruch“, ist kindlich und weise, töricht und stur.

In einem Zwischenreich zwischen Tag und Traum, Realität und Magie

Zudem hat Julie Bertuccelli ihren dritten Spielfilm nach „Seit Otar fort ist“ und „The Tree“ wieder in einem Zwischenreich angesiedelt, zwischen Tag und Traum, Realität und Magie. Das ist nicht ganz frei von Kitsch, aber was soll’s. In „Seit Otar fort ist“ trotzen drei Frauen dem Tod mit der Kraft der Illusion, in „The Tree“ lebt der Vater nach einem tödlichen Unfall in einem riesigen Baum weiter, eine Naturgewalt über den Häuptern der Lieben. Und in „Der Flohmarkt von Madame Claire“ ist das Leben ein Museum voller dämmriger Räume, vollgestopft mit beseeltem Krimskrams. Die Kamera von Irina Lubtchansky gleitet und tanzt darüber hin.

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Die Regisseurin, Jahrgang 1968 und selbst eine passionierte Sammlerin, hat sich auch mit Dokumentarfilmen einen Namen gemacht. Diesen Film nennt sie eine Inventur der Dämonen. Und sie spricht davon, dass das Sammeln in der Psychoanalyse bedeutet, den Tod abzuwenden. Weil, wer sammelt, nicht damit aufhören kann, weil es nie zu Ende ist. Gedreht hat sie im Haus ihrer Großmutter, einige der alten Automatenspielsachen stammen aus ihrem eigenen Besitz. In den Bäumen im Garten hängen Fahrräder, im Dorf schlägt ein Zirkus sein Zelt auf und ein Jahrmarkt dazu, die Kinder früherer Generationen ziehen in Faschingskleidung durchs Haus. Man gerät beinahe selber in Trance, so schwerelos spielt sich das Geschehen ab – selbst dann noch, als ein Funkenflug ein Inferno entfacht.

Mutter und Tochter haben sich seit 20 Jahren nicht gesehen

Wer ist das Mädchen mit den roten Gummistiefeln auf der Wiese? Ist es Claire als Kind? Ihre Tochter Marie? Eine Chimäre? Die Zeit gerät aus den Fugen: Marie, gespielt von Chiara Mastrioanni, Deneuves Tochter auch im wirklichen Leben, taucht wieder auf. Eine Freundin aus Kindertagen hat sie alarmiert, die beiden machen sich Sorgen um Madame Claire. Seit 20 Jahren haben Mutter und Tochter sich nicht mehr gesehen, getrennt durch Schuld und Schmerz.

Das ist der Schwachpunkt an diesem Film, der Plot, frei nach einem in Texas angesiedelten Roman der Amerikanerin Lynda Rutledge. Bertuccelli und ihre Ko-Autorin Sophie Fillières fördern hinter all den Wunderlichkeiten eine Familientragödie zutage, die nach anfänglichen losen Enden und feinen Andeutungen dann doch auserzählt wird – ein Ehedrama, ein Arbeitsunfall, der tragische Verlust eines Sohnes. Mehr und mehr wird der Film von Rückblenden durchsetzt, mit Alice Taglioni als der jungen Madame, mit Rembrandt’schem Chiaroscuro und mit Aussprachen über das, was damals wirklich geschah, im Steinbruch der Familie Darling. So entreißen die Bilder Madame Claire ihr Geheimnis, das sie gleichzeitig so fein zelebrieren.

Eigentlich möchte man ihr einfach nur zuschauen. Wie sie eine Zigarette nach der anderen raucht. Wie sie den Pastor beschwört, er möge die Teufel austreiben. Wie sie die alten Dinge anfasst und in die Ferne schaut. Wie sie Tee kocht, mitten in der Nacht.

Einmal geht sie ins Dorf und fährt Autoscooter auf dem Jahrmarkt. Catherine Deneuve, belle de jour, dreht sich im Kreis, und keiner stört sie dabei.

In 14 Berliner Kinos. OmU: Cinema Paris, Hackesche Höfe, Kino in der Kulturbrauerei, Odeon

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