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Romane als Ansteckungsgefahr: Eine Mitarbeiterin eines Buchfestivals in Moskau desinfiziert Bücher.

© Alexander Zemlianichenko Jr/Xinhua/dpa

Der erste Corona-Roman: Martin Meyers Erzählung „Corona“

Was für Trost und Lehren die Seuchenliteratur bereithält: Martin Meyer erzählt von einem Buchhändler in Quarantäne.

Ob man jetzt in der Pandemie-Zeit Trost darin findet, dass sich das Verhalten der Menschen zu Seuchenzeiten über die Jahrhunderte nicht groß verändert hat? Und man aus Büchern lernen kann, in denen die Seuchen früherer Zeiten eine wichtige Rolle spielen? 

So wie aus Boccaccios Pestfibel „Das Dekameron“, in der es zu Beginn heißt: „Und da waren manche, die dachten, dass ein mäßiges Leben, wobei man sich vor aller Üppigkeit hüte, die Widerstandskraft erheblich fördere; sie vereinigten sich zu Gesellschaften und lebten sonst von allen abgesondert.“ 

Oder aus Thomas Manns Novelle „Tod in Venedig“, in der es auch darum geht, dass Venedigs Stadtoberen alles dafür tun, die Cholera geheim zu halten und kleinzureden, gerade wegen der Touristen.

Matteo, der 70-jährige, alleinstehende Held von Martin Meyers Erzählung „Corona“, glaubt an diesen Trost, an Lehren. Er will sich sechs Bücher „zur Seele“ nehmen, die sich um Seuchen drehen, und fragt: „War die Literatur nicht der Spiegel des Lebens?“ 

Und „wenn das stimmte, und Matteo hatte nicht den geringsten Zweifel, dass es stimmte, dann war die Literatur auch der Spiegel des Sterbens. Das Inbild des Vergehens und der Vergänglichkeit.“ 

Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und dem Tod

Grund für Matteos Lektüreplan und Gedankengänge: Er ist krank, zeigt Symptome, die auf eine Covid-19-Infektion hinweisen, und befindet sich deshalb in Quarantäne. Überdies ist er Buchhändler von Beruf. Die Bücher stehen alle in Matteos Laden im Erdgeschoss des Hauses, in dem er im dritten Stock wohnt.

Umsorgt von seiner Nichte Carla und einer Nachbarin, nur selten analog, immer auf Abstand, ist Matteo auf sich selbst zurückgeworfen. 

Er hängt seinen Erinnerungen nach, denkt häufig an seine vor Jahren an Krebs verstorbene Ehefrau Sophia, stets katalysiert durch Betrachtungen in seiner Wohnung – und er liest seine sechs Bücher, schön chronologisch: erst das Alte Testament mit der Passage, in der die alten Ägypter mit zehn Plagen überzogen werden, weil sie Moses und sein Volk nicht ins gelobte Land lassen; Boccaccio natürlich; Daniel Defoes Bericht von der Pest aus dem London des Jahres 1665; dann die Mitte des 19. Jahrhunderts veröffentlichte Novelle eines nicht so bekannten Schweizer Pfarrers und Schriftstellers, Jeremias Gotthelfs „Die schwarze Spinne“; Manns „Tod in Venedig“ und schließlich, klar, Camus’ „Die Pest“.

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Originell ist es nicht, was der 1951 in Zürich geborene Martin Meyer, der über zwei Jahrzehnte das Feuilleton der „NZZ“ leitete, seinen Matteo lesen lässt; bis auf die Gotthelf-Novelle haben sich wegen der Covid-19-Pandemie alle Feuilletons ausgiebig mit ebenjenen Büchern beschäftigt

Trotzdem herrscht in Meyers Erzählung eine literarische Atmosphäre, ist diese nicht bloß die lange Version eines Feuilletonartikels. Das ist allein schon deshalb erstaunlich, da Meyer sie innerhalb von zwei Monaten geschrieben haben muss. 

Matteo hat als Figur viel Kontur, so wie er sich durch seine Wohnung bewegt, mal auf die leeren, ruhigen Straßen seiner Provinzheimatstadt blickt, mal sich mit seiner Vergangenheit auseinandersetzt, mal mit dem eigenen Tod. 

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Und dann macht er sich immer wieder Gedanken über seine Lektüre, flicht hier Proust ein, dort etwas Montaigne. Bei Thomas Mann erkennt er schließlich, dass dieser nicht an Gott geglaubt habe, das Jenseits in „Tod in Venedig“ nicht existent und Gustav von Aschenbach „ein Mann ohne Gott“ sei, ein Mann, „der als Künstler auf der Suche nach dem Schönen und als Mann auf der Suche nach dem Knaben war“.

Tatsächlich ist Gott, der Glaube an ihn der rote Faden, der sich durch diese Erzählung zieht, der den Erkenntnis- und Tröstungsprozess Matteos begleitet. Oder besser: das Gottlose, der Unglaube, die Abwesenheit eines Gottes gerade im Fall einer Seuche. 

Die ist eben nie eine von Gott gemachte, gesandte, wie es Boccaccio schon im 14. Jahrhundert bezweifelte, um die Menschheit zu erziehen oder ihre Abwege aufzuzeigen: „Es gab keine höhere Moral. Keinen Verweis nach oben“, weiß Matteo mit Camus. 

Seuchen nützen nichts (worüber man natürlich streiten kann, die Medizin gewinnt ja ihre Erkenntnisse), dafür helfen Bücher, und darum geht es auch hier, Trost hin, Lehren her: Um Freude am „Dekameron“ oder an „Tod in Venedig“ zu haben, braucht es keine Pandemie, kein neuartiges Coronavirus. 
[Martin Meyer: Corona. Erzählung. Verlag Kein & Aber, Zürich 2020. 204 Seiten, 20 €.]

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