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Kultur: Der doppelte Schatten

Barenboim mit Musikern des West-Eastern Divan.

Rationale Organisation des musikalischen Materials, Neubearbeitung, Revision, Fassung und Weiterentwicklung sind Schlüsselworte in der Kompositionsweise von Pierre Boulez. Es bedeutet, dass alle seine verfertigte Substanz bereit ist für neue Eroberungen: keine Opusmusik, sondern work in progress. Tonqualitätenreihe, gelenkter Zufall in der seriellen Musik verführen ihren Schöpfer, weiterzudenken ins Offene. Er misstraut der „schöpferischen Botschaft“ als einem Fetisch von degradierter Romantik, um auf seine spirituelle Art poetisch zu werden.

Während er in Bayreuth Chéreaus „Jahrhundertring“ betreute und in seinem Dirigieren Wagners Strukturen deutlich machte, entstand „Messagesquisse“ (1976/77) für Violoncello solo und sechs Celli, später bearbeitet für Violen. Boulez’ Doppelbegabung als Dirigent und Komponist ist mit der von Richard Strauss verglichen worden, aber bei dem Franzosen dominiert ein scharfer Intellekt. Daniel Barenboim ist dem Komponisten seit 1964 in enger Freundschaft verbunden. Wenn er nun das Cellostück (mit Hassan Moataz als Solist) dirigiert, kommt der Musik eine eigene Energie zu. Sie stammt aus der Wagner-Bruckner-Tradition, die Boulez vertraut ist. Er dirigiert oft in Bayreuth, bis zum „Parsifal“ Schlingensiefs. Bei aller Gegensätzlichkeit der Freunde Boulez und Barenboim gedeiht ein vorbildliches künstlerisches Vertrauen.

Barenboim hat den Abend im gut besuchten Schiller-Theater in die Staatsopernreihe „Infektion!“ eingefügt, das Festival für Neues Musiktheater. Es spielen hervorragende Mitglieder seines West-Eastern Divan Orchestra. Ein Kammerkonzert. Ein bisschenTheater bietet der „Dialogue de l’ombre double“ (1984), der in die sechziger Jahre zurückreicht. Eine von Band eingespielte Klarinettenstimme und der Zauberklarinettist Jussef Eisa an sechs Notenpulten wechseln im Dialog von Licht und Schatten. „Dérive 2“ in der Fassung von 2006 für elf Spieler will über 50 Minuten nicht enden, vitale Anläufe für Barenboim, melodische Korrespondenzen seiner Instrumentalsolisten in ihren Farben Viola-Klarinette-Violine-Fagott, Nuancen des gemischten Einklangs.

Michael Barenboim, Konzertmeister des Divan Orchestra, Sohn des Dirigenten und auch Boulez seit langem verbunden, hat sich mit „Anthèmes“ in beiden Fassungen beschäftigt. Hier bewegt sich der Virtuose allein, glänzend zwischen stürzenden Zweiunddreißigsteln, Doppelgriffen, Flageolett und Klängen, die einem Hauch gleichen. Ein langer, reiner Boulez-Abend: „Musik ist ebenso Wissenschaft wie Kunst.“ Sybill Mahlke

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