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We Will Rock You: Manchmal packt Dieter Bachmann, hier mit seinen Schülerinnen Stefani und Ilknur, im Unterricht die Gitarre aus.

© Madonnen Film

Der Dokumentarfilm "Herr Bachmann und seine Klasse": "Am Ort Schule fasziniert mich die zwischenmenschliche Dynamik"

In "Herr Bachmann und seine Klasse" porträtiert Maria Speth einen Lehrer und seine unkonventionellen Methoden. Doch die wahren Stars sind die Kids.

Von Andreas Busche

Die erste Szene in Maria Speths Dokumentarfilm „Herr Bachmann und seine Klasse“ muss gleich mal wiederholt werden. Es ist jedoch keine Regie-Anweisung, Dieter Bachmann findet bloß die Performance seiner Schülerinnen und Schüler unbefriedigend: zu laut, zu unruhig, zu trödelig. Also alle wieder raus aus dem Klassenzimmer und noch mal von vorne. Im zweiten Versuch klappt es besser, Bachmann ist happy – und zur Belohnung dürfen die Mädchen und Jungen noch ein zweiminütiges Nickerchen machen.

So beginnt ein ganz normaler Schultag in der Klasse 6b der Georg-Büchner-Gesamtschule im nordhessischen Stadtallendorf. Später sagt der Lehrer Bachmann, dass die „Dressur“ nur zehn Prozent seiner Arbeit ausmache. Die übrigen neunzig zeigen Maria Speth und ihr Kameramann Reinhold Vorschneider in ihrer dreieinhalbstündigen Langzeitstudie mit großer Geduld für die „unscheinbaren Momente, die nur kurz aufscheinen“, wie es die Regisseurin im Interview formuliert.

Dieter Bachmann und Maria Speth kennen sich aus seiner Zeit in Berlin. Wie er in der hessischen Provinz landete, erklärt ihr Film nicht, seine Biografie spielt, obwohl er nominell der Titelheld ist, eine untergeordnete Rolle. Wenn Bachmann etwas über sich erzählt – im Wesentlichen in drei Szenen –, geschieht dies meist im Gespräch mit seinen Schülerinnen und Schülern. Bachmann erweist sich da als ein verlorener Kinostar.

Man denkt unwillkürlich an Jack Black in „School of Rock“: einer, der nicht recht ins System, das er repräsentiert, zu passen scheint. „Die Schule als Institution“, meint er einmal, „hat mich von Anfang an befremdet, bis heute.“ Im Unterricht trägt der 61-Jährige ein AC/DC-Shirt und Wollmütze, er sagt „Scheiße“, im Klassenraum, der voller Instrumente ist, steht eine Couch. Wenn die Kinder keine Lust auf Unterricht haben, proben sie „Smoke On The Water“ oder jonglieren. Sein pädagogisches Programm fällt in einem Nebensatz gegenüber dem befreundeten Steinmetz, den er mit seiner Klasse im Kunstunterricht besucht: „Es geht beim Lernen auch darum, dass jeder seinen eigenen Weg findet.“

Die Lehrpläne der Georg-Büchner-Gesamtschule folgen den Richtlinien der Kultusministerkonferenz, Dieter Bachmann interpretiert die Vorgaben nur etwas freier als seine Kolleginnen und Kollegen. Das hat auch mit der Demografie des Ortes zu tun. Stadtallendorf ist eine typische westdeutsche Kleinstadt – was eben bedeutet, das siebzig Prozent der Einwohner einen sogenannten Migrationshintergrund haben. Zuwanderung hat zum Nachkriegsboom der Ortschaft beigetragen, diese kleine Erfolgsgeschichte beruhte jedoch maßgeblich auf der Zwangsarbeit in den Munitionsfabriken während der NS-Zeit. Heute leben in den ehemaligen Baracken, deren Dächer zur Tarnung gegen Bombenangriffe bepflanzt wurden, die Zugewanderten zweiter und dritter Generation. Deren Kinder gehen in die Klasse von Dieter Bachmann, ihre Muttersprachen sind Arabisch, Rumänisch, Brasilianisch-Portugiesisch, Italienisch, Kasachisch, Türkisch, Russisch – und Deutsch. Sie sind die wahren Stars von „Herr Bachmann und seine Klasse“.

Das sieht auch Maria Speth so. „An einer Institution wie Schule fasziniert mich in erster Linie die zwischenmenschliche Dynamik und im Besonderen, ob und wie so eine vielfältig zusammengesetzte Klassengemeinschaft funktionieren kann. Darum wollte ich auch ganz explizit keinen Film nur über den Lehrer Dieter Bachmann machen, sondern über den Mikrokosmos dieser Klasse.“ Entsprechend reserviert reagiert sie, wenn man versucht, ihrem Film ein politisches Statement zu entlocken. Ja, Stadtallendorf sei demografisch schon eine exemplarische deutsche Stadt, aber: „Es geht hier nicht so sehr um den konkreten Ort Schule, sondern darum, was möglich ist, wenn Menschen aufeinandertreffen, wie man miteinander umgeht. Wir alle sind fühlende, soziale Wesen. Das sollte man unabhängig von dem Prozess des Lernens sehen.“

Dieser Ansatz unterscheidet „Herr Bachmann und seine Klasse“ etwa von dem Direct-Cinema-Stil eines Frederick Wiseman, den Speth sehr schätzt. Die Institution Schule bleibt im Hintergrund: Manchmal sitzt Bachmann im Lehrerzimmer, oder er bespricht mit seiner schwangeren Kollegin Aynur und den Eltern die Leistungen der Kinder an diesem wegweisenden Punkt ihrer Entwicklung. Die Zwölf- bis Vierzehnjährigen sind gerade erst aus ihren Sprachklassen gekommen und müssen am Ende des Schuljahres schon für eine weiterführende Schule empfohlen werden. Noten sind für den Nonkonformisten Bachmann, der in der Pause auch mal Döner für alle bestellt, aber eher ein notwendiges Übel. Er betrachtet die Schule weniger als Bildungsanstalt, sondern als Schutzraum, in dem sich Persönlichkeiten entfalten können.

Und Persönlichkeiten finden sich im Film reichlich: die vorlaute Klassenprinzessin Stefi; Ayman, für den Deutsch bereits die dritte Fremdsprache ist; die schüchterne Ferhan, die sich regelrecht hinter ihrem Kopftuch versteckt; Hasan, der später mal Boxer (oder Friseur) werden möchte; Ilknur, die den Jungs in ihrer Klasse eine Standpauke über gegenseitigen Respekt hält. Speth schwärmt noch immer von dieser Erfahrung mit den Kids: „Jeder im Klassenverband hat seine Rolle, jede ist wertvoll für das Funktionieren der Gruppe. Auch die, die stiller und zurückhaltender sind.“

Darum läuft Speth nie Gefahr, die Klasse 6b als geglückten Modellfall eines Einwanderungslandes zu glorifizieren – wofür die Bundesrepublik, auch das zeigt „Herr Bachmann und seine Klasse“ am Beispiel des Schulsystems, ohnehin noch einen weiten Weg vor sich hat. Ihr Film ist weniger didaktisch denn diskursiv, weil das Reden in Bachmanns Unterricht (und im Film) eine zentrale Rolle einnimmt – auch wenn den Kindern manchmal die passenden deutschen Vokabeln fehlen. Etwa im Streit zwischen Rabia und Stefi darüber, dass Homosexualität nicht „eklig“ ist.

Maria Speth erzählt schmunzelnd, dass sie über 200 Stunden Rohmaterial Schnitt für Schnitt, Unterrichtseinheit für Unterrichtseinheit verdichtet hat, um die Essenz dieser Gruppe herauszuarbeiten. Ihr Film lässt sich tatsächlich mit dem Werk eines Steinmetzes vergleichen, der eine Skulptur modelliert. Das Geheimnis seines Handwerks, das der befreundete Künstler im Gespräch mit Bachmann preisgibt, gilt im Grunde auch für die Arbeit des Lehrers: Man müsse zunächst Erwartungen abbauen. Erst dann ist man offen für die Schönheit des kreativen Prozesses. Bachmann erwidert, dass er – bis er an die Büchner-Schule kam – nie das Gefühl hatte, er könne in seinem Job gestalten. Nach dem Film sieht man den „Beamtenberuf“ Lehrer mit anderen Augen.

Ein Geheimnis von „Herr Bachmann und seine Klasse“ liegt in der unausgesprochenen Komplizenschaft zwischen dem Lehrer und den Kindern. Maria Speth sagt, dass Bachmann das Klassenzimmer nach seinen Vorstellungen eingerichtet hat – auch um mit seinem Befremden umzugehen. Ayman wiederum erzählt, dass er Marokko als seine Heimat empfinde, obwohl er dort nur die ersten zwei Jahre seines Lebens verbracht habe. Eine der besten Pointen hat der Film, als Bachmann erklärt, dass seine Familie ursprünglich Kowalski hieß und sein schöner deutscher Name der polnischen Oma von einem Nazi-Beamten zugeteilt worden sei. Heimatgefühle sind eben eine komplizierte Angelegenheit.

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