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Kultur: Der alte Mann und die Nacht

Beim Lucerne Festival leuchten die Stars – und Pierre Boulez weist der Jugend noch einmal den Weg

Man fragt sich vielleicht, was die Haffner Symphonie, Brahms’ Akademische Fest- Ouvertüre oder Schostakowitschs Achte mit dem diesjährigen Thema des Lucerne Festival „Nacht“ zu tun haben. Die Antwort ist: nichts. Und das ist gut so. Die Programme der Sinfoniekonzerte, die wie jeden Sommer von den größten Orchestern und gefragtesten Dirigenten gegeben werden, streifen das Festivalthema nur da und dort. Diesem zwanglosen Vorgehen ist es zu danken, dass die Programme niemals ins Forcierte abrutschen, zumal bei einem Festival von fast sechs Wochen.

Wo es Inspiration oder Reflektionsrahmen stiftet, kommt das Thema dafür umso mehr zum Tragen: Aufs Intensivste setzte sich artiste étoile Charlotte Hug mit dem Phänomen Nacht auseinander: „Son-Icons“ nennt die weltläufige Schweizer Bratschistin, Komponistin und Zeichnerin – in Berlin bekannt für ihre Performance im halb gesprengten Bunker Humboldthain – ihre evokativen, abstrakten Graphitzeichnungen auf langen Pergamentbahnen, die Gestus und Struktur imaginierter Klänge darstellen. Sie entstanden teils in einem Labor bei einem Schlafentzugsexperiment, teils in den Gezeiten der irischen Atlantikküste und verbinden quasi die Nacht im Menschen mit der kosmischen Nacht. Zeichnungen als Partitur zu lesen, die der Berliner Videokünstler Götz Rogge im Dunkeln auf eine himmelszeltartige Leinwand über dem Orchester projiziert, war selbst für die Studierenden der Lucerne Festival Academy eine neuartige Herausforderung. Hugs Orchesterstück „Nachtplasmen“ fasziniert vor allem durch das Archaische dieser direkten Verwandlung von Bild in Klang. Am wirkungsvollsten wird die idiosynkratische Welt der Charlotte Hug aber von ihr selbst vermittelt in ihrem Solo „Slipway to Galaxies“, wo sie inmitten ihrer Zeichnungen, gleichzeitig singend und spielend, die ultimative Identifikation mit ihrer Kunst spüren lässt.

Scheint auch die Werkkonstellation etwas bizarr – Wagners Rienzi-Ouvertüre, der „Tanz der sieben Schleier“ aus Strauss’ Oper Salome und nach der Pause Schostakowitschs 8. Symphonie – so entpuppte sich doch gerade dieses Konzert als eindrückliches Erlebnis: Andris Nelsons verstand aus dem Royal Concertgebouw Orchestra das volle Spektrum an Klang und Aussagekraft zu aktivieren: Während der erste Programmteil von aufbrausender, schillernder Dramatik gezeichnet war, offenbarte sich die Musik im zweiten Teil bei unterdrücktem Vibrato und konsequentem Verzicht auf Klangästhetik als erschütternde Sublimierung versagter Sprache.

Als Tiefpunkt unter vielen Höhepunkten erwies sich eine konzertante Aufführung der Zauberflöte mit dem Mahler Chamber Orchestra unter Daniel Harding. Erratisch eingesetzte, dramaturgielose Videoprojektionen verhinderten den Vorzug des Konzertanten, diese Musik ohne Bild zu erleben. Dazu kam der unselige Einsatz eines „witzigen“ Erzählers – mit Handpuppe für die frechen, zeitgemäßen Zwischentöne. Doch da ein bisschen Klamauk stets auf offene Herzen stößt, fand dies beim Publikum durchaus Anklang. Schade bloß um die Zauberflöte, die dabei flöten ging.

Das Luzerner Publikum liebt ganz besonders die kontinuierlichen Projekte wie Claudio Abbados Lucerne Festival Orchestra und die Lucerne Festival Academy unter der Leitung von Pierre Boulez. Letzteres zieht vermehrt auch interessiertes, neues Publikum an – trotz der ausschließlich modernen Programme. Es hat sich offenbar herumgesprochen: So wie beim Lucerne Festival ist Boulez nirgendwo zu erleben. Drei Wochen lang profitieren Akademisten wie Publikum von Expertise und Erfahrung des Meisters der Nachkriegsavantgarde. Immer wieder stellt er klar: Es kommt allein auf das Wesen, auf die Essenz eines Werks an. Nur dieses darf Analyse und Interpretation bestimmen, damit es dem Hörer zuteil werden kann. Solche Prozesse muss und kann man lernen, als Musiker wie als Hörer. In Luzern ist das Jahr für Jahr möglich und hat Beispielswert für grassierende Musikvermittlungsprogramme, die oft umständlich an dieser Essenz vorbeimanövrieren.

Die Aufführung von Boulez’ großem Orchesterwerk „Pli selon pli“ mit der wunderbaren kanadischen Sängerin Barbara Hannigan war, angefangen von der erhellenden Einführung, ein einmaliges Erlebnis von unerhörter musikalischer Schönheit und Stimmigkeit. Boulez’ Dirigat macht diese Essenz des Werks stets greifbar: Entscheidende Punkte verankert er deutlich, was dazwischen liegt, lässt er atmen. Auch sein Einführungsgespräch zu einem reinen Stockhausen-Abend ermöglichte ein Hören der Musik im Bewusstsein des Zusammenhangs. Ironisch-kritisch entlarvte er die Darmstädter Ferienkurse zwar als „keine Schule, sondern vor allem viel Wein“, betonte aber,dass sie der Politik mit einer musikalischen Europavereinigung vorausgegriffen haben.

So ereilte einen bei der Uraufführung des Violinkonzerts von Matthias Pintscher, trotz der sehr gefälligen Klänge und einem feingesponnen Bogen durch das Werk, wieder einmal der Wunsch nach einer Zeit, in der ein musikalischer Neubeginn eine existenzielle Notwendigkeit ist. Vielleicht sollte des Nachts wieder mehr Wein getrunken werden.

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