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Foto von Doris Anselm

© gezett.de/Literaturwerkstatt

Der 22. Lesewettbewerb Open Mike: Ungerührtes Glitzern

Sie zuckt und zappelt: Beim 22. Open Mike in Berlin gibt die junge deutschsprachige Literatur Lebenszeichen von sich. Eine funkelnde Bandbreite an Nachwuchsautoren liest im Neuköllner Heimathafen.

Die Kluft reißt auf am zweiten Wettbewerbstag. Da liest Michael Wolf seinen schon im Titel anspielungsverliebten Text „Liebe in Zeiten der Schreibschule“. Sprachlich gekonnt, mit einem Netz literarischer Bezugspunkte gesichert – und doch kann keine Verschachtelung verhehlen, dass es hier um gar nichts geht. Ihm folgt Gerasimos Bekas mit „Feierabend“: stilistisch weniger ambitioniert, zuweilen gar etwas unbeholfen, aber mit einem spürbar dringlichen Erzählanliegen, unsentimentalen Schilderungen, rauen Dialogen.

Bekas erhält für seine Erzählung über das Verhältnis zwischen dem Hospizangestellten Lev und dem Altnazi Günni den Publikumspreis. Dieser Preis ist ein Zeichen, wohin sich der wichtigste Wettbewerb für junge deutschsprachige Literatur entwickelt – und ein gutes dazu. Kaum eine Kultursparte zerfleischt sich so bereitwillig selbst wie der Literaturbetrieb. Das ist in den Rauch- und Lästerpausen des Lesungsmarathons allenthalben zu hören. Allein, wer zuletzt die Debatte um schreibende Arztsöhne, um die Wohlsituiertheit und fehlende Risikobereitschaft verfolgte, muss den Eindruck gewonnen haben, die jüngere deutschsprachige Literatur sei im Diskurskrampf erstarrt.

Dass sie aber zuckt, zappelt, nervös aufzufahren droht, ist beim 22. Open Mike eindrucksvoll zu erleben. Unter der riesigen Diskokugel im Heimathafen Neukölln lesen 22 Kandidaten, werden vier Sieger gekürt, wobei der Großteil des Preisgelds einem Hauptgewinner zufällt. Erfahrungsgemäß winkt den Gewinnern eine Karriere im Literaturbetrieb. Die ist auch weiteren der von sechs Lektoren ausgewählten Autoren und Autorinnen zu wünschen: Von ihnen soll mehr zu hören sein als die jeweils 15 Minuten im Rahmen der zwei Wettbewerbstage.

Zwischen Sound und Wasserglaslesung

Betriebsreflektierende Entwürfe wie der von Michael Wolf nämlich bleiben die Ausnahme. Nur noch René Weisel liefert mit „Im Staub" verschraubtes Branchengeflüster, das Agenten und Verlegern ein pflichtschuldiges Kichern entlockt. Das Gros besteht aus Jugendschilderungen und Innensichten prekärer Milieus. Jenifer Johanna Becker liefert mit „Molecure Moss“ souveräne Bilder einer Pubertät und Nora Linnemann geht in „Jackie-Olé“ furios mit einer Liebe zwischen Kindern aus der Unterschicht ins Gericht.

Linnemann wirft denn auch die Frage nach der Performance auf, denn die gelernte Schauspielerin verleiht ihrem Text eine enorme Lebendigkeit, einen richtiggehenden Sound. Andere, wie Pascal Richmann, zeigen sich überfordert von den selbst angelegten Stimmungslagen. Sein Vortrag hat etwas von einer monotonen Wasserglaslesung, was mindestens schade ist im Fall seiner interessant montierten Erzählung „Weber“. Von einer Veranstaltung, die im selben Ursprung wurzelt wie der arg performancelastige Poetry Slam, ist wenigstens eine Auseinandersetzung mit der Materie zu erwarten, besonders, wenn Alexandra Riedel ihre „Prinzessin" durch schneidende Aussprache abhärtet oder Simon Kalus´ Zynikerstimme das „Babyfischglück" erst zum Funkeln bringt.

Lyriker sind naturgemäß die besseren Vorleser. Allein das Spektrum der ausgewählten Einsendungen erschwert die Vergleichbarkeit. Ob Felix Schiller mit historischen Porträts „darwins kollegen" erforscht oder Walter Fabian Schmidt die „Turing Galaxis" mit poetisch verklärtem Science-Fiction-Vokabular ausmisst: keine Sorgen bitte um das Gedicht der Jetztzeit! Handwerklich nicht minder ansprechend sind Özlem Özgul Dündars Beobachtungen von flackernden Synapsen im Moment der Wortschöpfung. Den Lyrikpreis des Open Mikes 2014 aber erhält Robert Stripling, dessen „Prosagedichte" einen merk- wie preiswürdigen Sog entwickeln, oszillierend zwischen narrativen Fäden und Freude an motivischem Glanz. Der in Frankfurt am Main lebende Dichter liest seine Zeilen mit Schnappatmung, die im Hörerlebnis neue Klang- und Sinneinheiten formt.

"Demokratie deine Mutter"

Nicht, dass die Prosa-Autoren nicht vorlesen könnten, nicht, dass es nicht primär um Text ginge. Am Jubiläumstag des Mauerfalls kommt Astrid Sozios DDR-Flüchtlingsdrama „Was nicht Fenster ist, ist Wand" mit wunderbar knappen, nur am Schluss etwas sentimentalen Szenen zur Geltung, und Mareike Schneiders barock ausufernde Sprache darf in „Die Holzmieten" liebend gern in das tragikomische Familiengewimmel um einen sterbenden Großvater entführen. Schneider nimmt ebenfalls einen Preis entgegen, es dürfte nicht ihr letzter bleiben, wenn das Romanprojekt, aus dem sie einen Auszug las, diesen melancholisch-fokussierten Blick behält.

Ohnehin „ihren Weg als Autorin machen" wird Hauptpreisträgerin Doris Anselm. Björn Kuhligk, selbst arrivierter Lyriker und Schriftsteller, bescheinigt ihr das, in bemerkenswerter Einigkeit mit seinen Jury- und Schriftstellerkollegen Marion Poschmann und Andreas Maier. Die 32-jährige Anselm, die als Radiomoderatorin in Berlin arbeitet, verschneidet in „Die Krieger des Königs Ying Zheng“ museale Katalogtexte einer Ausstellung der Terrakottaarmee mit an Feridun Zaimoglus „Kanak Sprak“ gemahnender Kunstdiktion. Subtil wie pointiert, originell, ohne an Klarheit zu verlieren: „Demokratie deine Mutter“ ist das Schlagwort, unter dem sich eine Jugendclique aufmacht, die Schließung ihres Einkaufscenters zu verhindern. Während die Terrakottapassagen immer näher heranzoomen, bis „jede Figur, vom General bis zum Fußsoldaten“ Kontur annimmt, verschwimmt das „Wir“ der Clique, bis sich die Initiative in gesichtsloser Bürokratie verläuft: „Gehen wir nacheinander die grüne Treppe runter und sagt keiner ein Wort. Die Treppe runter dauert zehnmal so lange wie rauf.“

Zehnmal so lange wie nötig dauern auch Reden und Anmoderationen. Es ist der einzige Wermutstropfen bei dieser gelungenen Werkschau. Bei aller Liebe zur Hemdsärmligkeit spricht nichts gegen optimierte Ablaufpläne: Dass Mikrophone neu verlegt und Zettel hinaufgereicht werden müssen, wirkt störend. Jörg Sundermeier vom Berliner Verbrecher Verlag versteht es als einziger, seine Schützlinge gewitzt und vorurteilslos anzukündigen. Die anderen erweisen den Autoren zuweilen Bärendienste mit vorweggenommenen Zitaten oder Erwartungen, denen der Text kaum gerecht werden kann. Da wankt selbst die Diskokugel an der Decke – aber sie hält und glitzert ungerührt, und hat so einiges gemeinsam mit der jungen deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.

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