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Der 20. Juli und die Bundeswehr: Das blasse Vermächtnis

Warum es in 15 Jahren wohl keine Stauffenberg-Kaserne mehr geben wird - und wie die Bundeswehr mit dem 20. Juli umgeht. Ein Gastbeitrag zum 75. Jahrestag.

Der Autor ist Professor für Militärgeschichte / Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam.

Die Republik braucht eine Armee. Soviel war selbst dem eingefleischten Zivilisten Konrad Adenauer klar. Der Aufbau von Streitkräften war für ihn einer der Hebel, mit dem er seine beiden wichtigsten außenpolitischen Ziele erreichte: die Wiedererlangung der Souveränität und die Integration in die westliche Staaten- und Bündnisgemeinschaft. So sinnvoll die Wiederbewaffnung also außenpolitisch war, so umstritten war sie innenpolitisch. Die meisten Deutschen hatten vom Militär schlicht die Nase voll. Dass man 1955 nicht einfach so tun konnte, als sei nichts gewesen, war auch den Gründervätern der Bundeswehr klar.

Für Adolf Heusinger und Hans Speidel aber auch den als konservativen Hardliner verschrienen Heinz Karst gehörte der 20. Juli 1944 unbedingt zum neuen geistigen Fundament der Bundeswehr hinzu. Es ging ihnen dabei gewiss nicht um eine akribische Analyse von Mentalität und Handlungen eines Stauffenberg, Tresckow oder Beck. Sie hoben die außerordentliche Tat und den Widerstand aus Verantwortung hervor, wie es der erste Traditionserlass der Bundeswehr von 1965 formulierte. Schon bald wurden die ersten Kasernen nach ihnen benannt. Die Armee übernahm damit öffentlichkeitswirksam einen der Gründungsmythen der Bundesrepublik.

Gleichwohl war dies ein Elitenprojekt und insbesondere den Wehrmachtveteranen blieben die Widerständler zunächst fremd. Solche, die dem Eid auf Hitler bis zur letzten Minute gefolgt waren – und dies waren die allermeisten – und die wenigen, die ihr Gewissen über die Eidesformel gestellt hatten, waren anfangs nur schwer unter einen Hut zu bringen.

Peinliches Versehen

Erst mit der behutsamen Distanzierung von der Wehrmacht begann der Widerstand als Referenzpunkt für das Selbstverständnis der Streitkräfte wichtiger zu werden. Dass er im Traditionserlass von 1982 vergessen wurde, war ein peinliches Versehen. Verteidigungsminister Hans Apel wollte das Dokument noch vor dem Ende seiner Amtszeit rasch durchboxen, und die Schlussredaktion war dann wohl etwas hektisch.

In den folgenden Jahren kristallisierten sich dann die preußischen Reformer, der militärische Widerstand gegen Hitler und die eigene Geschichte der Bundeswehr als die drei Eckpfeiler der offiziellen Tradition heraus. Jeder Offizier konnte die drei „Säulen“ bald im Schlaf aufsagen. Im Truppenalltag spielte das aber nur eine untergeordnete Rolle. Einem Feldwebel der Panzertruppe ging es wohl mehr um die handwerklichen Vorbilder für seinen Kampfauftrag. Stauffenberg und Tresckow hatten mit der täglichen Praxis der bundesrepublikanischen Friedensarmee nur wenig zu tun.

Das Vermächtnis blieb also blass, jenes der Panzerkommandanten des Zweiten Weltkrieges umso greifbarer und auf den Stuben umso beliebter. Es war einerseits sicherlich ein Fehler, die Widerständler nicht auch stärker in ihrer Rolle als Militärs betrachtet zu haben. Manche von ihnen wären für die Soldaten so vielleicht besser als Vorbilder vermittelbar gewesen. Andererseits barg ein allzu genaues Hinschauen auch das Risiko, Belege zu entdecken, die dem Vorbildcharakter abträglich sein konnten. Männer wie Henning von Tresckow aber auch Rudolf-Christoph von Gersdorff und Georg Freiherr von Boeselager waren intensiver am Vernichtungskrieg beteiligt als Jagdflieger wie Helmut Lent, der beim letzten Kehraus von Ministerin Ursula von der Leyen zum Abschuss freigegeben wurde. Bis heute ist die Frage nicht offen gestellt, wie viel Verstrickung in die Verbrechen des NS-Regimes eigentlich akzeptabel ist, um noch als Vorbild durchzugehen.

Der 20. Juli verkam in den letzten Jahren immer mehr zum bloßen Ritual, zumal im Alltag der Streitkräfte Verantwortungsethik wohl nicht die erste Priorität hatte und eine allzu willfährige Anpassung an Vorgaben von „oben“ erwartet wurde. Sprüche wie: „An einem Tag gedenken wir Stauffenberg und an 364 verhalten wir uns wie Keitel“, waren hinter vorgehaltener Hand von selbstkritischen Offizieren zu hören. Gewiss arg pointiert und polemisch, aber doch beredter Ausdruck einer Kultur, die den „Aufstand des Gewissens“ feiert, in puncto Haltung nach Meinung vieler Soldaten aber manche Defizite aufweist.

Sie bleiben Vorbilder

Im jüngsten Traditionserlass wird die besondere Bedeutung des 20. Juli für das Selbstverständnis der Bundeswehr dezidiert genannt. Man hat sich also nicht von der Erkenntnis beirren lassen, dass die Widerständler in ihren politischen Vorstellungen denkbar weit von der Bundesrepublik entfernt waren. Sie bleiben Vorbilder, weil sie den Aufstand des Gewissens – übrigens auch wegen der moralischen Empörung über die Verbrechen – gewagt haben.

Wie aus informierten Kreisen zu erfahren war, fehlte in den ersten Entwürfen interessanterweise der explizite Hinweis auf den 20. Juli. Gewichtige Stimmen sorgten dann in internen Debatten dafür, dass er noch hineingeschrieben wurde. Damit gelang es auch, die Proteste aus der Truppe, nicht alle alten Traditionsstränge abzuschneiden, zumindest etwas einzufangen. Heute ist der militärische Widerstand gegen die NS-Diktatur de facto die einzige legitime Form, Beispiele aus der Zeit vor 1945 in die Tradition der Bundeswehr aufzunehmen.

Doch dabei wird es nicht bleiben. In 15 bis 20 Jahren wird es wohl keine Tresckow- und keine Stauffenberg-Kaserne mehr geben, weil jene, die für die Männer des 20. Juli in Gesellschaft und Politik streiten, immer weniger werden. Und das Verteidigungsministerium hat bislang noch jede traditionspolitische Haltelinie nach kurzem Rückzugsgefecht aufgegeben.

Sönke Neitzel

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