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Heroisch. Nicolas Cage als Polizist John McLoughlin (r.) in Oliver Stones Film „World Trade Center“. Die Geschichte von zwei Rettern, die noch in letzter Minute aus den Trümmern der Zwillingstürme geborgen werden konnten.

© picture-alliance/ dpa

Der 11. September im Kino: Angriff auf die Fantasie

Trauma, Tabu, Katastrophenfilm und Liebeserklärung: Wie Filmemacher das Thema 9/11 verarbeitet haben.

Im Kino war 9/11 schon vorher da. Edward Zwicks Politthriller „The Siege“ von 1998 wurde seinerzeit als schwer übertrieben empfunden. Arabischstämmige Selbstmordattentäter, die New York mit einer Serie von Anschlägen heimsuchen, woraufhin die Armee brutale Antiterrormaßnahmen ergreift, einschließlich systematischer Folter in eigens eingerichteten Lagern? Der Film mit Bruce Willis und Denzel Washington floppte.

Drei Jahre später stürzte mit den Twin Towers auch der Schutzraum der Imagination ein. Die als abwegig empfundene Mainstream-Fantasie wurde von der Wirklichkeit grausam überholt. Die Flugzeuge in den Türmen, die Rauchwolke, die kollabierenden Wolkenkratzer, die in die Tiefe fallenden Menschen, die Endlosschleife der Realbilder im Fernsehen: ein ikonischer Schock.

Das Bild sei „in unsere Realität eingedrungen und hat sie zerschmettert“, schrieb der wilde Denker Slavoj Žižek. Das World Trade Center, diese Architekturikone der US-Finanzmacht, wurde zum Massengrab mit 3000 Toten. Wer laut über die Katastrophenfilm-Ästhetik der Anschläge nachdachte, über den Kollaps des visuellen Zeitalters und das Wissen der Täter über die symbolische Schlagkraft der von ihnen produzierten Horrorbilder, zog den Vorwurf des Zynismus auf sich. Der Komponist Karlheinz Stockhausen sprach vom „größten Kunstwerk überhaupt“ und erntete Entsetzen. Steven Spielberg wollte eine Bilderverbot über 9/11 verhängen, Science-Fiction- und Weltuntergangs-Produktionen wurden gecancelt, die Türme aus Blockbustern herausgeschnitten oder wegretuschiert. 9/11 terrorisierte auch das Kino derart massiv, dass der Horror made in Hollywood obsolet geworden war. Ein Kulturbruch.

20 Jahre später wissen wir: Das Trauma, das Tabu, sie bedeuteten nicht das Ende des Katastrophenkinos. Aber die Anschläge selbst sind wenig verfilmt worden. Das Böse bannen, indem man es imaginiert: Bei 9/11 funktionierte das Kino nicht als Mittel gegen die Angst.

2002 versuchte die elfteilige Kurzfilm-Kompilation „11'09'01“, unter anderem mit Beiträgen von Ken Loach, Samira Makhmalbaf, Mira Nair und Sean Penn, der Überforderung der Fantasie mit persönlichen Skizzen beizukommen. Zum fünften Jahrestag folgten Oliver Stones Heldensaga „World Trade Center“ mit Nicolas Cage und Paul Greengrass' mit Laien besetzte Dokufiction „United 93“.

Paul Greengrass verzichtete in „United 93“ auf Stars und Effekte

Es sind die einzigen nennenswerten Kinowerke, die den Terrorattacken unmittelbar beizukommen versuchen. Beide Drehbücher basieren auf realen Schicksalen, beide begegnen dem Unzeigbaren mit Geschichten von tapferen, ihr Leben riskierenden Amerikanern, auf denkbar unterschiedliche Weise.

Oliver Stone, der noch 2001 arabischen und amerikanischen Terrorismus miteinander verglichen hatte und harsche Kritik erntete, besann sich auf seinen linken Patriotismus, sein Faible für die einfachen Leute, sein Vietnamkriegstrauma.

Wie einen Kriegsfilm inszenierte er die Überlebensgeschichte der Feuermänner John McLoughlin und Will Jimeno, zwei der 20 unter den WTC-Trümmern verschütteten Menschen, die gerettet werden konnten.

Ein Ex-Marine gibt die Suche nach ihnen nicht auf, im Abspann erfährt das Publikum, dass er danach im Irakkrieg kämpfte. Die Twin Towers wurden am Computer regeneriert: 9/11 als Spezialeffekt, ein Kino des Schreckens und des Sentiments, mit apokalyptischen Detonationen, der Agonie der lebendig Begrabenen und ihrer verzweifelten Ehefrauen. Das Unbehagen ob der emotionalen Ausbeutung von 9/11 stellt sich beim Wiedersehen erneut ein.

Paul Greengrass verzichtete in „United 93“ auf Stars und Effekte. Das Echtzeit-Szenario mit improvisierten Dialogen und ohne heldenhafte Identifikationsfiguren konzentriert sich, neben der heillosen Überforderung in den Flughafenkontrolltürmen, ganz auf Panik und Chaos im vierten entführten Flugzeug. Sein mutmaßliches Ziel, das Kapitol oder das Weiße Haus, erreichte es nie, es stürzte über einem Feld in Pennsylvania ab, weil die Passagiere den Al-Qaida-Attentätern ins Handwerk pfuschten.

Keiner überlebte, kein Happy-End, aber wieder eine patriotische Message. „Let's roll“, der Bordfunk-Aufruf eines der mutigen Passagiere, wurde zum Slogan im war against terror. Auch hier fragt man sich, bei aller Redlichkeit, ob da nicht ein realer Todesflug per Simulation für 90 Minuten Kino-Extremspannung ausgenutzt wird.

Danach menschelte es im 9/11-Kino. Trauerarbeit, die privaten Verluste, die versehrten Hinterbliebenen: In Mike Binders Buddymovie „Die Liebe in mir“ mit Adam Sandler und Don Cheadle von 2007 versucht ein Arzt, den Panzer des alten Studienfreunds aufzubrechen, der Frau und Kinder bei den Anschlägen verloren hat. 2011 folgte Stephen Daldrys Leinwandadaption des Foer-Romans „Extrem nah & unglaublich laut“ als leider viel zu gefällige Vater-Sohn-Story.

Kathryn Bigelows Bin-Laden-Jagdfilm „Zero Dark Thirty“

Weit umfangreicher ist das Spektrum der Filme zum Antiterrorkrieg. Ob im Actionformat, als Psychodrama oder im politengagierten, investigativen Dokumentarfilm, das Kino bewegte sich wieder auf vertrautem Terrain. Kathryn Bigelows Bin-Laden-Jagdfilm „Zero Dark Thirty“, entstanden nach ihrem Cannes-Sieger „Hurt Locker“ über Bombenschärfer im Irak, zählt ebenso dazu wie Michael Winterbottoms „Road to Guantanamo“ oder Paul Haggis’ „The Valley of Elah“ über traumatisierte Irakkriegs-Veteranen. Errol Morris befasste sich in „Standard Operating Procedure“ mit dem Folterskandal von Abu Ghraib.

Und Michael Moore gewann mit seinem Anti-Bush-Pamphlet „Fahrenheit 9/11“ die Goldene Palme in Cannes, als erster Dokumentarist schaffte er es sogar an die Spitze der US-Kinocharts.

Schläfer-Filme gibt es bis heute, auch deutsche. Vor wenigen Wochen kam mit Anne Zorah Beracheds „Die Welt wird eine andere sein“ die Geschichte einer Radikalisierung in Hamburger Studentenkreisen ins Kino, eine tragische Lovestory im Schatten von 9/11. Johannes Nabers Politthriller „Curveball“ (Start 9. 9.) basiert auf der Verwicklung des BND in die Kriegsgrund-Lüge von der Existenz irakischer Massenvernichtungswaffen.

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Die Wunde klafft nach wie vor. Eines der eindrücklichsten Kinobilder schuf Spike Lee bereits 2002, wie nebenbei in seinem New-York-Film „25 Stunden“. Ein Drogendealer muss ins Gefängnis, an seinem letzten Tag in Freiheit trifft er Verwandte, Weggefährten, Kollegen.

Zwei seiner Freunde schauen aus dem Fenster auf Ground Zero hinunter, das blutende Herz der Stadt. Es herrscht Abschiedsstimmung: Wenn Edward Norton vor dem Spiegel eine Hasstirade auf New York loslässt, schlägt sie zugleich in eine Liebeserklärung um. Die Fiktion ist in den Bann der Realität gezogen, und sie macht keinen Hehl daraus.

In seiner aktuellen HBO-Doku-Serie „NYC Epicenters 9/11 – 2021 ½“ spannt Spike Lee den Bogen von 2001 bis zur Corona-Pandemie. In der letzten Folge treten neben seriösen Experten jedoch auch Verschwörungstheoretiker auf, die nicht an einen Terroranschlag glauben, sondern an eine gezielte Sprengung. Inzwischen sitzt Spike Lee wieder im Schneideraum. Sein Publikum bittet er, sich erst ein Urteil zu bilden, wenn die Folge ausgestrahlt wird. Geplant ist sie für den 11. September.

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