zum Hauptinhalt
Denis Scheck beim fröhlichen Bücherschmeißen in seiner Sendung "Druckfrisch".

© dpa

Denis Scheck kommentiert "Spiegel"-Bestsellerliste: Apostel und andere Heilige

Kaum einer pfeffert Bücher derart schwungvoll ins Aus wie Literaturredakteur Denis Scheck. Seine Besprechung der "Spiegel"-Bestsellerliste im Überblick.

Denis Scheck, Literaturredakteur im Deutschlandfunk, bespricht einmal monatlich die „Spiegel“-Bestsellerliste, abwechselnd Belletristik und Sachbuch – parallel zu seiner ARD-Sendung „Druckfrisch“.

10) Bronnie Ware: 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen (Deutsch von Wibke Kuhn, Arkana , 352 S. 19,99 €)

Eine australische Krankenschwester kolportiert angeblich Todkranken abgelauschte Lebensweisheiten der Sorte, dass man immer der Stimme seines Herzens folgen soll und Geld nicht so wichtig im Leben sei. Alles richtig, nur: Die zum Weinen dämliche Rhetorik dieses Buches entspricht aufs Jota den Verkaufssprüchen von Quacksalbern auf den Jahrmärkten der Vergangenheit, die Wundertinkturen gegen Haarausfall, Bauchgrimmen und Zahnweh feilboten. In diesem dreisten Fall von Leserverdummung darf man bedauern, dass Teeren und Federn nicht mehr zum Repertoire der zeitgenössischen Literaturkritik zählt.

9) Peter Wensierski: Die verbotene Reise (Deutsche Verlagsanstalt, 256 S., 19,99 €)

Dieses Buch stellt mich vor ein Dilemma: Erzählt wird hier eine der hinreißendsten Geschichten der späten DDR, von denen ich je gehört habe, die Geschichte zweier Menschen, die sich ihre Reisefreiheit einfach nehmen und immer weiter Richtung Osten fahren. Aber: Wie das erzählt wird, die Sprache und die Komposition dieses Buches, ist indiskutabel naiv.

8) Christopher Clark: Die Schlafwandler (Deutsch von Norbert Juraschitz, Deutsche Verlagsanstalt, 896 S., 39,99 €)

Der australische Historiker Christopher Clark hat ein Meisterwerk über die Julikrise 1914 und das zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs führende Versagen der Diplomatie geschrieben. Sein Fazit: „Man fühlt sich an ein Stück von Harold Pinter erinnert, wo sich alle Akteure sehr gut kennen und kaum leiden können.“

7) Volker Weidermann: Ostende 1936. Sommer der Freundschaft (Kiepenheuer & Witsch, 160 S., 17,99 €)

Dieses Buch schildert ein historisch verbürgtes Treffen von vor den Nazis ins Exil geflohenen deutschsprachigen Schriftstellern in Belgien und ist ein Zwitter zwischen Sachbuch und Roman. Leider schafft es Weidermann, die Schwächen beider Beschreibungsarten der Wirklichkeit in seinem Text zu vereinen. Wo Fakten für sich sprechen sollten, erschlägt Weidermann sie unter einem Adjektivgewitter. Wo sich spannende psychologische Konstellationen eröffnen, bleiben seine Figuren blass und unimaginiert, oft verlässt sich der Autor ganz auf die Strahlkraft illustrer Namen wie Josef Roth, Egon Erwin Kisch oder Stefan Zweig. Am Ende steht eine plump anempfindelnde, gedankenschwache Literaturschwärmerei voller Sätze wie: „Vielleicht ist Stefan Zweig nie zuvor in seinem Leben so überwältigt gewesen, so glücklich, stolz und zuversichtlich.“ Genau: vielleicht.

6) Christine Westermann: Da geht noch was (Kiepenheuer&Witsch, 192 S., 17,99 €)

„Ich war schon 48, für damalige Fernsehverhältnisse eine alte Frau“, schreibt Christine Westermann über ihre Anfänge bei „Zimmer frei“ und den Altersrassismus der Medien. Dieser unprätentiöse Essay über Ausflüge ins Kloster, Besuche beim Atemtherapeuten und was westliche Gesellschaften sonst noch an Angeboten zum Innehalten angesichts schrumpfender individueller Restlebenszeit anbieten, überzeugt, weil er weniger Rat als vielmehr Trost anbietet.

Guido Maria Kretschmer, Sarrazin und Roger Willemsen.

5) Andreas Englisch: Franziskus – Zeichen der Hoffnung (C. Bertelsmann, 433 S., 19,99 €)

Wie schwer es ist zu lügen, wenn man die Wahrheit nicht kennt, lässt sich aus diesem sagenhaft zusammengestoppelten Machwerk des gläubigen Vatikan-Hofberichterstatters Andreas Englisch erkennen. „,Wisst ihr denn auch, warum kein Mensch einen Reporter braucht?‘“, lässt er darin Papst Benedikt XVI einen ihn begleitenden Journalistentross fragen und auch sogleich die Antwort geben. „,Weil vor 2000 Jahren genau hier am Berg der Seligpreisungen ein Mann stand, der gesagt hat, Selig sind die Barmherzigen … Kein Reporter hat damals mitgeschrieben, und doch hat die Zeit dieses Wort nicht auslöschen können.‘ … Als er das sagte, dachte ich, er hat recht.“ Leider hat Englisch daraus die Konsequenz gezogen und von Reporter auf Apostel umgesattelt.

4) Rolf Dobelli: Die Kunst des klaren Denkens (Hanser, 256 S., 14,90 €)

Warum wir Dingen Wert beimessen, nur weil sie in unserem Besitz sind, wieso Abwarten und Nichtstun schwerer ist als Überaktivität und weshalb wir uns so häufig wie der Fuchs in Äsops Fabel, dem die Trauben zu hoch hängen, über unsere ursprünglichen Absichten hinwegtäuschen, das lässt sich aus diesem schlauen Handbuch über Sackgassen unseres Denkens lernen.

3) Guido Maria Kretschmer: Anziehungskraft (Edel Books, 237 S., 17,95 €)

Als ich in diesem Mode-Ratgeber las „Ausgeleierte Unterwäsche, Socken mit Löchern, Strumpfhosen mit Laufmaschen und beschädigte Kleidungsstücke schmeißen Sie in den Müll. Seien Sie dabei wirklich rigoros“, wurde mir schlagartig klar, was ich mit dieser Ansammlung ausgeleierter, löchriger und beschädigter Sätze zu tun habe.

2) Thilo Sarrazin: Der neue Tugendterror (Deutsche Verlagsanstalt, 400 S. 22,99 €)

Thilo Sarrazin wurde und wird oft nicht auf dem intellektuellen Niveau begegnet, auf dem seine provokativen Sachbücher zweifellos angesiedelt sind. In seinem neuen Buch „Der neue Tugendterror“ geht Sarrazin der Frage nach, wer eigentlich darüber bestimmt, welche Meinung zulässig ist und welche ausgegrenzt wird. Dazu wählt Sarrazin ein Beispiel, von dem er viel versteht: sich selbst. Auch wenn dieser intellektuelle Narzissmus diesem Buch schadet, zeigt es deutlich, wie das muntere Meinungsspiel der Medien gar nicht so selten zu einer Hexenjagd mutiert.

1) Roger Willemsen: Das Hohe Haus (S. Fischer, 400 S., 19,99 €)

Für sein neues Buch ist Roger Willemsen dahin gegangen, wo’s wehtut. Ein Jahr hat er sich zu intellektuellem Pfahlsitzen im Zentrum der vom Volke ausgehenden Macht verdonnert und die Debatten im Deutschen Bundestag mitverfolgt. Für einen an quecksilbrige Denkbewegungen und virtuose Sprachakrobatik gewohnten Mann wie Willemsen sicher kein leichter Weg. Das Ergebnis sind Innenansichten aus dem deutschen Politikbetrieb, deren Erkenntnistiefe niemanden kaltlassen wird: „Merkel hat einen Fleck am Revers entdeckt, rubbelt, hebt ihre rote Henkeltasche an, hält ihren gelben Kuli aufrecht. … Merkel schmiegt jetzt die Wange in eine Hand. … Merkel ist inzwischen ins Innere ihrer Tasche zurückgetaucht.“ Dieses Buch hat der deutsche Politikbetrieb verdient.

Zur Startseite