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Mann mit Feinsinn. Jazzmusiker Rolf Kühn.

© Paul Zinken/dpa

Dem Jazzklarinettisten Rolf Kühn zum 90.: Volles Rohrblatt

Überlebender im großen Weltenzirkus: Der stilprägende Berliner Jazzklarinettist Rolf Kühn feiert an diesem Sonntag seinen 90. Geburtstag.

Von Gregor Dotzauer

Keine zwei Jahre, und der sanfte Wind, den sie entfachten, frischte merklich auf. An den beiden letzten Novembertagen des Jahres 1964 spielte der Klarinettist Rolf Kühn zusammen mit seinem Bruder, dem Pianisten Joachim Kühn, für das Ost-Berliner Amiga-Label mit „Solarius“ ein Quintett-Album ein, dessen melancholische Schönheit selbst eiserne Jazzverweigerer erweichen musste.

Im Verein mit Michal Urbaniak, der hier auf Tenor- und Sopransaxofon zu hören ist, bevor er als Geiger Weltkarriere machte, tänzelt Schlagzeuger Czeslaw Bartkowski lässig synkopierend durch einen Blues in Moll. Er fegt mit dem Besen in aller Seelenruhe die vier Viertel der titelgebenden Ballade zusammen oder umspielt die drei Viertel eines modalen Walzers, aus dessen Weiten plötzlich das alte Volkslied „Sie gleicht wohl einem Rosenstock“ emporsteigt.

Rolf Kühn, damals ein junger Mann von 35 Jahren, schnurrt bei aller harmonischen Offenheit, die bald den ganzen modernen Jazz bis zum Zerreißen der akkordischen Abläufe erfassen sollte, mit einer swingenden Eleganz durch die Oktaven, die den prägenden Einfluss von Benny Goodman nicht verleugnen kann.

Währenddessen schimmert in den rank und schlank aufeinander getürmten Quartblöcken seines 15 Jahre jüngeren Bruders Joachim der Lyrismus des jungen McCoy Tyner durch, der im Quartett von John Coltrane dazu beitrug, die schlichte Funktionsharmonik zu durchbrechen.

Was dann geschah, darüber können Nachgeborene noch heute staunen – und über einen legendären Befreiungsschlag sogar zum ersten Mal. Denn die siebenfache Vinylbox, die jetzt zum 90. Geburtstag von Rolf Kühn an diesem Sonntag, den 29. September, bei MPS Records erscheint, enthält neben bereits auf CD erschienenen Zeugnissen seiner ungebrochenen Vitalität unveröffentlichte Live-Aufnahmen, die den Geist der damaligen Revolution aufs Schönste widerspiegeln.

Aufgewühltes Geschehen

Denn nach der europäischen Noblesse von „Solarius“ rüttelten Anfang November 1966 bei den Berliner Jazztagen in der Philharmonie schon heftigere Energien am Gefüge. Rolf Kühn wirft zusehends abstrakte Linien ins aufgewühlte Geschehen mit Drummer Ralf Hübner und Bassist Günter Lenz. Und Joachim Kühn wühlt sich in dissonante Strudel hinein, aus denen er immer wieder in jenem beidhändigen Oktaven-Unisono hinausflattert, das zu seinem Markenzeichen wurde.

Wie ekstatisch wurde es erst im Juli 1967 beim Newport Jazz Festival in Rhode Island. Aus New York stieß John Coltranes Bassist Jimmy Garrison dazu, und aus Paris, wo Joachim Kühn sich angesiedelt hatte, der italienische Schlagzeuger Aldo Romano. Rolf Kühns Klarinette erreicht mitunter Volumen und Schärfe eines Saxofons, und mit dem Klavier seines Bruders im Rücken weht es ihn bis an die Grenze eines Free Jazz, aus dem es für manche keine Rückkehr gab.

Das Konzert in Newport wurde zum Präludium für die Suite „Impressions of New York“, die die Brüder im selben Jahr für das Label „Impulse!“ einspielten – auch eine Hommage an den verstorbenen Coltrane, den sie zuvor in der St. Patrick’s Cathedral aufgebahrt gesehen hatten.

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Es war sicher auch die neu gewonnene staatsbürgerliche Freiheit, die Joachim Kühn über sich hinauswachsen ließ. Anders als Rolf, der 1950 zum RIAS-Tanzorchester in den Westen gegangen war und 1956 für fünf Jahre in die USA auswanderte, war Joachim in der DDR geblieben. Doch 1966 nutzte er eine Einladung von Friedrich Gulda nach Wien, um sich in den Westen abzusetzen.

Stephan Lambys anderthalbstündige Dokumentation „Brüder Kühn“, die auf 3Sat zu sehen war, erzählt mit großer Empathie von den Wirren jener Zeit, vom energetischen Fluidum eines stilistisch changierenden Jazz – und von denkbar ungleichen Geschwistern, die einander doch in tiefer Zuneigung und innigem musikalischem Verständnis verbunden sind.

[„Brüder Kühn – Zwei Musiker spielen sich frei“ ist bis zum 20. Dezember 2019 in der 3Sat-Mediathek zu finden.]

Obwohl Lamby weder Historisches noch Musikalisches zutage fördert, das nicht schon in Maxi Sickerts Gesprächsband „Clarinet Bird“ (2014) verhandelt worden wäre, fügt er sein Material überzeugend zusammen. Der Filmemacher und Produzent, der sich vor allem mit Polit-Dokumentationen einen Namen gemacht hat, darunter über Henry Kissinger, Wolfgang Schäuble und das Wahlkampfduell von Angela Merkel und Peer Steinbrück, nutzt seine Liebe zum Jazz, um gleichzeitig durch ein Jahrhundert deutscher Geschichte zu pflügen.

Sohn einer jüdischen Mutter

Rolf, als Sohn einer jüdischen Mutter in Leipzig aufgewachsen, bekam die Rassenpolitik der Nazis von Kind an zu spüren. Der Vater war Zirkusartist und tourte zusammen mit seinem Bruder durch die bekanntesten Varietés – ein Beruf, der eigentlich auch Rolf zugedacht war.

Mit der Reichspogromnacht brach sich die antisemitische Gewalt offen Bahn und hinterließ auch am elterlichen Zigarrengeschäft in der Lützner Straße Spuren. 1942 flog er als „Halbjude“ von der Schule und konnte seine musikalische Ausbildung nur noch im Verborgenen fortsetzen. Eine Tante und ein Onkel wurden nach Theresienstadt deportiert und in Auschwitz ermordet.

Befreiung unter gegnerischen Besatzungsmächten, Kalter Krieg und Mauerbau: Im Wechsel von Archivmaterial und persönlichen Erinnerungen, passiert der Film fast schematisch die Stationen zweier bewegter Leben.

Die Grenze, hinter der einst der Bruder wohnte. Rolf Kühn an der East Side Gallery in einer Szene der Doku "Brüder Kühn".
Die Grenze, hinter der einst der Bruder wohnte. Rolf Kühn an der East Side Gallery in einer Szene der Doku "Brüder Kühn".

© ZDF/Stephan Lamby

Bei aller Konventionalität der Form gelingt Lamby aber – auch durch eine hartnäckig auf Nähe bestehende Kamera – ein physiognomisch scharfes, mitunter auch überraschend komisches Doppelporträt.

Rolf erscheint als der Redebegabtere, Feinsinnigere, auf dem Showparkett Kompromissbereitere und an den Weltläufen Interessiertere, der auch auf die von Lamby ausgegrabenen Stasi-Akten neugierig ist. Joachim, nach Jahren chemischer Bewusstseinserweiterung mittlerweile naturstoned, zeigt sich als der in seiner Maulfaulheit musikalisch Eruptivere und Eigenwilligere, versunken in einem einzelgängerischen, um anarchische Freiheit ringenden Leben auf Ibiza.

Rückkehr nach Birdland

Die Band des Trompeters Chet Baker führte ihn zum Jazz: eine Horde schief und lethargisch auf ihren Stühlen herumhängender Musiker, die bei ihren Soli plötzlich zu erstaunlicher Virtuosität erwachten. Eine Lässigkeit, die er erst viel später mit Bakers Junkie-Dasein in Verbindung brachte.

Mitreißend, wie Joachim im leeren Pool seiner Finca Altsaxofon spielt. Kurios der Rückblick auf seine kalifornischen Jahre von 1978 an – und auf ein Amerika, dessen er so überdrüssig wurde wie Rolf des rat race Jahrzehnte zuvor.

Anrührend, wie Rolf noch einmal vor dem New Yorker Birdland steht und auch dem Haus, in dem er zusammen mit einer versoffenen Billie Holiday wohnte. Lebensabschnitte, denen er deutlich mehr Wehmut entgegenbringt als vermeintlichen Verirrungen wie dem Album „The Kühn Brothers & the Mad Rockers“.

Die psychedelischen Endsechziger-Farfisa-Orgeleien, die sich hier mit elektronisch verzerrten Klarinettentönen mischen, die wie von Soft Machine klingen, sind für Verachtung viel zu schade – und origineller als so manches Easy Listening, auf das er sich in den Siebzigern und Achtzigern einließ.

„Brüder Kühn“ erzählt aber auch von einer nicht minder lebendigen Gegenwart. Neben dem Duo, das die beiden international wohl renommiertesten deutschen Jazzer pflegen, sind es insbesondere zwei Bands, mit denen Rolf Anschluss an die junge Szene gefunden hat, die wiederum ihn verehrt.

Das Quartett mit Pianist Frank Chastenier, der Kontrabassistin Lisa Wulff und dem Perkussionisten Tupac Mantilla, der live zuletzt öfter durch Diego Piñera ersetzt wurde, ist die kulinarischere, für Songs und Melodien entzündbarere Formation.

Zwischen den Polen

Die Band mit Schlagzeuger Christian Lillinger, Gitarrist Ronny Graupe und Bassist Johannes Fink ist das stachligere und schroffere Ensemble. Was die Dichte des improvisierenden Miteinanders angeht, kann man keiner von beiden den Vorzug geben: Sie markieren Pole des zeitgenössischen Jazz, zwischen denen sich Rolf Kühn immer schon hin- und herbewegte: mal eher in Richtung Fusion Jazz, mal eher in Richtung des Avantgardisten Ornette Coleman, mit dem zusammen er auch auftrat.

Einmal sieht man Rolf Kühn, der als Jugendlicher auf Beerdigungen mit Harmoniumspielen etwas dazuverdiente und mangels Noten das Improvisieren lernen musste, im Gespräch mit Christof Reiff, dem Solo-Klarinettisten der Jenaer Philharmonie. Reiff gesteht, wie gerne er aus dem Moment heraus ähnlich schwerelose Phrasen erfinden würde.

Und er intoniert eine Melodie, die zwar irgendwie nach Jazz klingt, doch letztlich ein Abklatsch bleibt. Kühn korrigiert Reiff, lobt dessen Bemühen und erkennt zugleich die Vergeblichkeit, die darin liegt, mal eben so die Sprache wechseln zu wollen.

Und man begreift, was es für Rolf Kühn heißt, auch mit 90 Jahren noch täglich mehrere Stunden an seinem Ton und seiner Geläufigkeit zu feilen.

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