zum Hauptinhalt
Fabelhafte Fantasie. Nicolás Giacobone schrieb das Script zu „Birdman“ mit Michael Keaton (vorn). Dafür erhielt er einen Oscar.

© Imago/Cinema Publishers Collection

Debütroman von Oscar-Preisträger Nicolás Giacobone: Liveblog aus der Einzelzelle

Der argentinische Drehbuchautor Nicolás Giacobone verwischt in seinem Debütroman „Das geschwärzte Notizbuch“ die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit.

Klar, Trophäen können auch zu Todeswaffen werden. Je schwerer, desto gefährlicher. Einen kräftigen Schlag auf den Hinterkopf mit einer Goldstatue hat noch kaum jemand überlebt. Jedenfalls nicht in einem Fernsehkrimi.

Der Druck, den Pablo in seinem Rücken spürt, stammt diesmal nicht, wie einige Monate zuvor, von einem Revolver, sondern von der wohl berühmtesten Auszeichnung der Welt. Der Oscar, 34 Zentimeter groß und fast vier Kilo schwer, kann einschüchtern. Doch Santiago Salvatierra ist nicht zu Pablo in dessen Verlies hinabgestiegen, um ihn zu bedrohen und anzutreiben. Er will ihn aufmuntern.

Kann man geschenkt bekommen, was einem längst gehören müsste?

Angetrunken und spätnachts hat der Regisseur dem Gefangenen den letzten seiner Oscars mitgebracht, den er für den besten fremdsprachigen Film bekommen hatte. Pablo soll ihn behalten, vielleicht kann er ihn als Briefbeschwerer nutzen. Aber Pablo will nicht. Briefe bekommt er ohnehin nicht. Und kann man geschenkt bekommen, was einem längst gehören müsste? Denn die Drehbücher der Dramen, mit denen Santiago zum weltweit gefeierten Autorenfilmer aufstieg, hat allesamt Pablo geschrieben.

Über Bestsellerautoren wird manchmal gelästert, sie müssten Schreibsklaven im Keller versteckt haben, um anhaltend produktiv sein zu können. In Nicolás Giacobones Roman „Das geschwärzte Notizbuch“ ist aus dem Spott Wirklichkeit geworden.

Salvatierra, laut Pablo unfähig, auch nur einen drehreifen Dialog zu Papier zu bringen, will nun, fünf Jahre nach dessen Entführung, mit ihm ein ultimatives Meisterwerk schaffen, das „alles gewinnen“, größer als selbst die Klassiker von Bergman und Fellini werden und Kassenrekorde brechen soll. Und während niemand etwas von Pablos Existenz ahnt, wurde Salvatierra bereits zum besten spanischsprachigen Filmemacher des Globus ausgerufen, zum „neuen Almodóvar oder Iñárritu“.

Das bleibt nicht der letzte selbstreferenzielle Witz in diesem Buch, das kunstvoll die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit verwischt. Giacobone hat als Drehbuchautor mehrfach mit dem mexikanischen Meisterregisseur Iñárritu zusammengearbeitet. Für seine Vorlage zur Superheldenfilmparodie „Birdman“ erhielt er einen Oscar. „Das geschwärzte Notizbuch“ ist der Debütroman des 44-jährigen Argentiniers.

Ein Kellerspiel

Eingekerkert im Souterrain der Villa seines Entführers am Rande der Anden, lamentiert der Held darüber, dass die Namen der Regisseure groß auf jedem Plakat stehen, überall aber Drehbuchschreiber „wie Kreaturen von Beckett in Straßengräben dahinvegetieren“.

Ob darin auch ein Stück von Giacobones Gram über die mangelnde Anerkennung seines Berufsstands steckt? Dafür müsste einem der schwadronierende, zwischen Selbstmitleid, Minderwertigkeitskomplexen und Größenwahn schwankende Pablo allerdings etwas sympathischer sein.

Der Plot erinnert an Stephen Kings Thriller „Misery“, in dem ein Bestsellerautor nach einem Autounfall von einer Ex-Krankenschwester, seinem „größten Fan“, als Geisel genommen und gezwungen wird, ein Buch zu schreiben. Aber eher noch ist Pablo ein Wiedergänger von Nicholson Bakers solipsistischen Tagträumern wie dem Protagonisten des Romans „Eine Schachtel Streichhölzer“, der frühmorgens im verglimmenden Kaminfeuerlicht seine Gedanken notiert.

Alles, was Pablo in sein Notizbuch schreibt, streicht er anschließend mit einem schwarzen Filzstift durch, damit es, falls entdeckt, nicht von Salvatierra gelesen werden kann. „Das geschwärzte Notizbuch“, das wie ein Liveblog aus der Einzelzelle wirkt, ist kein Krimi. Man könnte es als Kammerspiel bezeichnen, das im kleinstmöglichen, gleichzeitig maximal freien Raum aufgeführt wird: im Kopf des Ich-Erzählers. Ein Kellerspiel.

Ein überraschendes Ergebnis

Der Gefangene kämpft mit dem scharfen mexikanischen Essen, das ihm eine schweigsame Köchin tagtäglich serviert. Es verursacht Hämorrhoiden. Er bringt sich auf einer Ukulele die Hits der Beatles bei. Die Fab Four sind für ihn die einzigen musikalischen Genies.

Er hadert mit Borges’ Erzählungen, die Salvatierra ihm zur Inspiration geliehen hat. Er hasst den argentinischen Phantasten und die „Künstlichkeit“ von dessen Prosa. Die Prostituierte, mit der er phänomenal trostlosen Sex hat, kommt nie wieder. Wahrscheinlich, vermutet Pablo, hat sein Gastgeber sie als Zeugin umbringen lassen.

Geistesblitze wechseln in diesem Bewusstseinsstrom mit Schmähreden, Erinnerungen an seine in Buenos Aires vergeblich wartende Mutter mit streberhaften Erläuterungen von Aristoteles’ dramaturgischen Regeln. Als Pablo erfährt, dass Antonio Banderas, Meryl Streep und Jack Nicholson schon einen Vertrag unterschrieben haben, die Dreharbeiten bald beginnen sollen und er endlich den letzten Akt abliefern muss, treibt ihn der Druck in einen Writer’s Block.

Mehr und mehr driftet er in den Wahnsinn und schreibt wie Nicholson im Horrorthriller „Shining“ immer wieder denselben Satz: „Du kannst nicht schreiben“. Eine Pistole, die im ersten Akt gezeigt wird – fordert ein dramaturgisches Gesetz, das nicht von Aristoteles stammt –, muss im letzten abgefeuert werden. So geschieht es auch mit Salvatierras Revolver. Allerdings mit überraschendem Ergebnis.
[Nicolás Giacobone: „Das geschwärzte Notizbuch“. Aus dem argentinischen Spanisch von Christian Sönnichsen. Heyne Encore, München 2019, 303 S., 20 €]

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false