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Der Friedhofswärter (Juan Margallo) flüchtet sich in die Imagination.

© Sabcat Media

Debütfilm von Alireza Khatami: Die Toten können nicht vergessen

Geschichte des Terrors: Der Film „Los Versos del Olvido“ des iranischen Regisseurs Alireza Khatami erzählt eine politische Parabel.

Von Andreas Busche

Die Erinnerung ist ein psychologischer Schutzschild, doch das macht sie zu einem ebenso trügerischen Begleiter. Früher oder später bahnt sich die Wahrheit ihren Weg durch die schlimmsten Albträume, das Erwachen ist fürchterlich. Der alte Friedhofswärter (Juan Margallo) kennt den Mann, der sich auf der Suche nach einem Grab verlaufen hat, sie saßen zusammen im Gefängnis. Er kann sich nicht an dessen Namen erinnern, so wie der verirrte Besucher den Grund vergessen hat, warum ihn das Regime damals vorzeitig aus dem Gefängnis entließ.

Der Wärter aber kennt die Wahrheit, sein Gedächtnis funktioniert einwandfrei – nur eben an Namen kann er sich nicht erinnern. „Sie haben nach den Erschießungen im Gefängnis geholfen, das Blut im Innenhof mit Kalk zu übertünchen“, versucht er dem Mann auf die Sprünge helfen. Die Erkenntnis seiner schuldhaften Verstrickung ist ein Schock für den Alten, er verflucht sein Gegenüber. Doch die Wahrheit ist ein geringer Preis für die seelischen Verletzungen, die die Menschen in Alireza Khatamis Debütfilm „Los Versos del Olvido – Im Labyrinth der Erinnerung“ erfahren haben.

Paramilitärische Einheiten überfallen den Friedhofswärter

Die mentale Disposition des Wärters ist eines von vielen Puzzleteilen in der politischen Parabel des iranischen Filmemachers. Erinnerung spielt dabei eine entscheidende Rolle, die Amnesie wird zur Überlebensstrategie. „Das Vergessen zu vergessen“, philosophiert der befreundete Bestatter beim Ausheben eines Grabs, „das ist wahre Vergessenheit. Das Leichenschauhaus fungiert als zentraler Ort in „Los Versos del Olvido“, der in einem unbenannten südamerikanischen Land spielt (gedreht wurde in Chile). Hier laufen die Frontlinien des politischen Umbruchs und der bürokratischen Todesmaschine zusammen.

Denn das Regime benutzt die verwitterte Leichenhalle zur Aufbewahrung der Toten – eine neue, größere wurde zudem gerade eröffnet. Paramilitärische Einheiten überfallen den Friedhofswärter, der französische Kameramann Antoine Héberlé filmt den Angriff durch Milchglasscheiben. Der Alte kommt in der Wüste wieder zu Bewusstsein, zurück auf dem Friedhof realisiert er dann, dass die Soldaten die Leiche einer jungen Frau vergessen haben. Um der Toten – die offizielle Todesursache ist ein Autounfall – eine würdige Beerdigung zu ermöglichen, muss er ihre Identität ermitteln.

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Khatamis Protagonisten bewegen sich in einer Halbwelt zwischen (Alb-)Traum und verdrängter Wirklichkeit, gelegentlich überlappen sich die Sphären auch. Im Hintergrund berichten die Nachrichten von einer gestrandeten Walfamilie, irgendwann sieht der Wärter am Himmel dann tatsächlich einen Wal davonschwimmen. Dieser magische Realismus, ein gerade im lateinamerikanischen Kino populäres Wirklichkeitsdispositiv, verleiht „Los Versos del Olvido“ traumhafte Unschärfen, Khatami überführt seinen Film immer wieder in eine symbolische Ordnung.

Odyssee vom Iran über die Türkei nach Chile

Da weder die Figuren noch die Handlungsorte Namen tragen, bleiben die politischen Umstände kaum greifbar. Allein die Bedrohung ist konkret, sie kann auch durch Ausbrüche in die Imagination nicht mehr gebannt werden. In den labyrinthischen Kellerräumen unterhalb des Leichenschauhauses ruht ein Geheimnis, die Gänge können die Menschen aber auch lebendig unter sich begraben.

Die chaotische Entstehungsgeschichte von „Los Versos del Olvido“ lässt sich nicht ohne Weiteres von dem elliptischen Plot trennen. Khatamis Produktion hat eine wahre Odyssee vom Iran über die Türkei bis nach Chile hinter sich – wohl nicht von ungefähr verbindet alle Länder eine totalitäre Vergangenheit. Das Trauma dieser Historie wird in der Last der Erinnerung, der Lückenhaftigkeit der Bilder schmerzvoll sichtbar.

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