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Skeptiker mit satirischem Grimm. Der Schriftsteller Günter Kunert mit seinem gerade erschienenen Buch. Foto: Georg Wendt/dpa

© dpa

DDR-Autor Günter Kunert wird 90: Ironie in der Zone

Zum Fest ein vergessener Roman aus DDR-Zeiten: Der Schriftsteller Günter Kunert feiert seinen 90. Geburtstag.

Für „absolut undruckbar“ befand Günter Kunert seinen Roman„Die zweite Frau“, als er ihn 1975 abschloss. Deshalb verwahrte er das Manuskript 43 Jahre im Archiv, bis er es vor Kurzem wiederentdeckte. Eine Nachbarin im schleswig-holsteinischen Kaisborstel tippte es ins Reine, und nun liegt Günter Kunerts unverhoffter zweiter Roman nach „Im Namen der Hüte“ (1967) vor – rechtzeitig zu seinem 90. Geburtstag am heutigen Mittwoch. „Die zweite Frau“ ist Kunerts satirische Abrechnung mit dem Realsozialismus der DDR als der Pervertierung einer Idee, an die er ursprünglich geglaubt hatte. Als Sohn einer Jüdin durfte er in der NS-Zeit nur die Volksschule besuchen und galt als „wehrunwürdig“. Nach dem Krieg studierte er an der Kunsthochschule Weißensee einige Semester Grafik und veröffentlichte 1947 sein erstes Gedicht „Ein Zug rollt vorüber“.

Mit 19 in die SED eingetreten, wurde dem vielfach geehrten Schriftsteller und Bildenden Künstler 1977 als einem Erstunterzeichner der Biermann-Petition die Mitgliedschaft wieder entzogen. Im Oktober 1979 verließen Marianne und Günter Kunert samt ihrer sieben für die Fahrt sedierten Katzen Ost-Berlin in Richtung Schleswig-Holstein. Dort fühlt sich der gebürtige Berliner seither „maßvoll geborgen“, wie er unlängst sagte. Für den eingefleischten Skeptiker, auch „Kassandra von Kaisborstel“ genannt, ist das als Kompliment zu werten.

Ein Winter in England

Den Winter 1974/75 verbrachten Marianne und Günter Kunert im englischen Warwick. An der dortigen Universität hatte er eine Gastdozentur am Germanistischen Seminar inne. Trotz der vielen neuen Eindrücke, die er in einem „Englischen Tagebuch“ festhielt, strebten seine Gedanken und Ängste nachts ins heimische Ost-Berlin zurück. Mehrfach träumte er davon, verhaftet zu werden. Spiegelbildlich dichtete Kunert in „Die zweite Frau“ seiner Hauptfigur in England spielende Albträume an, einen „unkontrollierten Aufstand der Gedächtnispartikel". Barthold, ein Ost-Berliner Archäologe Anfang 50, schläft eines sonnigen Oktobertags bei der Lektüre des „Neuen Deutschland“ in seinem Gartenstuhl ein, als er auf einmal von den deutschen Luftangriffen auf London im Zweiten Weltkrieg träumt. In einem Bunker widerfährt ihm eine Begegnung der unheimlichen Art, als Walter Ulbricht seine Hand ergreift und nicht mehr loslässt. Inständig hofft er auf eine Verwechslung: „Aber ehe solche Aufklärung stattfinden konnte, erkannte Barthold plötzlich, indem er seinem Gegenüber in die unnatürlich geweiteten Pupillen sah, es müsse vor seinem Eintreten in den Keller Bedrohliches sich begeben haben und er, Barthold, bilde nun unabsichtlich das Hindernis für irgendeinen Walter Ulbricht betreffenden Vorgang. Der bedankte sich jetzt bei ihm für sein Kommen. Er sagte: ‚Ich wusste es – Sie sind Bart hold!' Das hatte man nun davon. Vick Tor wäre besser gewesen. Oder: Er Ich.“

Der Aufbau blieb eine Illusion

Damit ist der kompromisslos satirische Ton des Buches gesetzt: „Die zweite Frau“ konnte in der DDR, die Ironie schlecht vertrug, unmöglich erscheinen. 1971 hatte Erich Honecker den 78-jährigen Walter Ulbricht als Staatsratsvorsitzenden abgelöst. Das damit verbundene Aufbruchs- und Reformversprechen entpuppte sich als Illusion, ebenso wie die Hoffnung auf eine liberalere Kulturpolitik. Seiner über Jahre angestauten Enttäuschung machte sich das SED-Mitglied Kunert mit „Die zweite Frau“ Luft: „Vorsicht ist unsere zweite Natur geworden! Darum sind auch die Bücher langweilig. Vorsicht und Literatur vertragen sich nicht.“

Immer wieder geht es in Kunerts rund 60 Bücher umfassendem Werk um Steine. In seinen Notizen zur Literatur mit dem Titel „Warum schreiben?“ bezeichnet er sie als „Archetyp der Verdinglichung“ und in seinem „Englischen Tagebuch“ nennt er sich „ruinensüchtig“. Da erscheint es konsequent, dass er sich einen Steinzeit-Spezialisten als Helden erkoren hat, der sämtliche Zeitalter seinem Fachgebiet entsprechend einteilt: „mittlere Vormauerepoche, frühe fünfziger Jahre“. Das lässt sich als Ironisierung der mechanistischen Geschichtsauffassung des Historischen Materialismus lesen.

Barthold ist aufgrund einer vegetativen Dystonie von der Arbeit an einem historischen Forschungsinstitut krankgeschrieben. Dadurch hat er Muße, sich der Hauptbeschäftigung der DDR-Bürger zu widmen: dem „Warten in allen seinen Erscheinungsformen“. Das Problem der Mangelwirtschaft verschärft sich für ihn, als er ein wertvolles Geburtstagsgeschenk für den 40. Geburtstag seiner Frau sucht. Sie hört auf den Namen Margarete Helene, der Anklänge an Goethes „Faust“ und Homers „Odyssee“ vereint.

Archäologie mit Büstenhalter

Während ihr Mann im Liegestuhl hinter dem „Neuen Deutschland“ in deftigen erotischen Phantasien schwelgt, werkelt die tüchtige Hausfrau im Garten. Angesichts dieser Rollenverteilung lässt sich von einer durchaus bürgerlichen Komödie sprechen. Als Margarete Helene beim Umgraben auf einen erodierten Büstenhalter und längliche Knochen stößt, hängt der Haussegen nachhaltig schief. Gehören die Funde zu einer gewissen Elfi, von der sie in Bartholds Schreibtisch eine Postkarte entdeckt hat? Margarete Helene zeigt die Knochen ihrem Frauenarzt – und löst damit eine Lawine aus.

Barthold hingegen ahnt nichts von dem Verdacht bezüglich seiner „zweiten Frau“. Im Intershop, der nur Westgeld akzeptiert, rezitiert er beim Warten halblaut aus Montaignes „Essays“, Kunerts erklärtem Lieblingsschriftsteller – ein Fehler. Hatte Kunerts Förderer Bertolt Brecht nicht gesagt, im Sozialismus dürfe man es weder mit der Justiz noch mit der Medizin zu tun bekommen? Als ein Unbekannter mit Notizblock am Gartenzaun auftaucht, rechnet das Ehepaar mit dem Schlimmsten. So trostlos kleinbürgerlich, wie Günter Kunert die frühe Ära Honecker zeichnet, so sehr frappieren die Frivolität und Frechheit seines kriminalistisch-politischen Liebesromans.

Günter Kunert: Die zweite Frau. Roman. Wallstein, Göttingen 2019. 204 Seiten, 20 €.

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