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Symbolfigur des Widerstands. Oskar Brüsewitz hatte eine Schuhmacherwerkstatt bei Osnabrück betrieben und die Predigerschule in Erfurt besucht. Das Foto stammt aus dem Dokumentarfilm „Störenfried“ von Thomas Frickel.

© Thomas Frickel

DDR 1976: Vor 40 Jahren begann der Untergang der DDR

Erst der Feuersuizid des Pfarrers Oskar Brüsewitz, dann die Ausbürgerung von Wolf Biermann, schließlich der Hausarrest für Robert Havemann: 1976 markierte den Anfang vom Ende der DDR.

Am 18. August 1976 parkt Oskar Brüsewitz sein Auto vor der Michaeliskirche in der sächsisch-anhaltinischen Kreisstadt Zeitz. Er nimmt einige Schilder heraus und befestigt sie auf dem Dach. Ihre Botschaft ist eine Anklage: „Funkspruch an alle ... Funkspruch an alle ... Die Kirche in der D.D.R. klagt den Kommunismus an! wegen Unterdrückung in Schulen an Kindern und Jugendlichen.“ Dann holt Brüsewitz, der einen schwarzen Talar trägt, eine Milchkanne aus dem Wagen, übergießt sich mit Benzin und zündet sich an.

Während er lichterloh brennend über den Platz läuft, ist ein zufällig anwesender CDU-Lokalpolitiker damit beschäftigt, die Schilder wegzuräumen. „Meines Erachtens können nicht viele dieses Transparent gelesen haben, da es nur kurze Zeit auf dem Auto stand“, gibt er später bei der Stasi zu Protokoll. Brüsewitz, der als evangelisch-lutherischer Pfarrer im Dorf Rippacha arbeitet, erleidet Verbrennungen zweiten Grades an etwa 80 Prozent seines Körpers. Er stirbt vier Tage später im Krankenhaus in Halle an der Saale, ohne dass seine Angehörigen noch einmal zu ihm gelassen werden.

Oskar Brüsewitz wollte mit seinem Suizid ein Feuerzeichen setzen, sah sich als Märtyrer in der Nachfolge des Studenten Jan Palach, der sich 1969 auf dem Prager Wenzelsplatz angezündet hatte. 200 000 Menschen legten für Palach am Tag seines Todes Blumen ab. Brüsewitz war hingegen ein Einzelkämpfer. Man könnte auch sagen: ein Sonderling. Er gehörte zu keiner Massenbewegung, zu seiner Beerdigung kamen 370 Menschen, darunter 72 Pfarrer. Als Geistlicher fiel Brüsewitz durch Exzentrik auf, einmal hielt er bei einer Trauerpredigt einen menschlichen Knochen in der Hand, ein anderes Mal ließ er eine Traktorenkette rasselnd auf den Sarg fallen. Seine Grabstätte hatte er vor dem Flammentod in der „Selbstmörderecke“ des Friedhofs von Rippicha bereits teilweise ausgehoben.

Robert Havemann in seinem Haus in Grünheide bei Erkner.
Robert Havemann in seinem Haus in Grünheide bei Erkner.

© ullstein bild

Brüsewitz sah sich als Prophet, aber er war wohl eher noch ein Psychopath. Zum politischen Ereignis, bilanziert der Historiker Karsten Krampitz, wurde der Tod des Pfarrers erst durch die Reaktionen. Krampitz gehört zu den besten Kennern der DDR-Spätphase, er hat eine 400-seitige Dissertation über Brüsewitz geschrieben, die jetzt als Buch erscheint, und schildert den Fall auch in seinem Jahreszahlenbuch „1976. Die DDR in der Krise“. Ein Kommentar des „Neuen Deutschland“ (ND) attackierte die „Bösartigkeit bundesrepublikanischer Kirchenfürsten“, die einen Märtyrer gegen den Kommunismus erschaffen wollten. Brüsewitz habe mit dem BND in Kontakt gestanden und bei einem Fußballspiel mit Kindern „weniger angehabt als eine Unterhose“. Eine Diffamierung.

Daraufhin erreichten die Redaktion Dutzende empörter Leserbriefe, ein beinahe umstürzlerischer Vorgang in der DDR. Die Kirchenleitung formulierte eine Gegendarstellung, die hektografiert verbreitet wurde. Als auch noch republikweit die Geistlichen einen kritischen Gemeindebrief von der Kanzel verlasen, sprach Erich Honecker von „einem der größten konterrevolutionären Akte gegen die DDR“. Der ND-Kommentar, den viele Bezirkszeitungen nachgedruckt hatten, ist in der Sprache des 17. Juni geschrieben. Den Gläubigen wurde signalisiert, dass das Jahr 1953 und die blutige Niederschlagung des Arbeiteraufstands noch nicht vergessen waren. Die Front zwischen Partei und Kirche war von nun an verhärtet, viele der Oppositionellen, die 1989 die Mauer zum Einsturz brachten, sollten aus Kirchenkreisen kommen.

Der 11. September 1976 ist ein Datum, das, so Krampitz, „in der Forschung zur DDR-Geschichte bislang unzureichend gewürdigt wurde“. Am Vormittag wurde der anklägerische Gemeindebrief verlesen, am Abend gab Wolf Biermann in der Nicolaikirche zu Prenzlau ein Konzert. Nach elf Jahren Berufsverbot war es das erste und bis zum Herbst 1989 letzte öffentliche Konzert des Liedermachers in der DDR. Er sang auch das „Große Gebet der alten Kommunistin Oma Meune aus Hamburg“: „Mach, dass mein herzenslieber Wolf nicht endet / wie schon sein Vater hinter Stacheldraht / Mach, dass sein wirrer Sinn sich wendet / zu der Partei, die ihn verstoßen hat.“

Hinter Stacheldraht endete Biermann bekanntlich nicht. Aber auf der anderen Seite der Mauer. Die Staatsführung nutzte eine Tournee des Sängers durch die Bundesrepublik, um ihn auszubürgern. „Die zuständigen Behörden“, hieß es im „Neuen Deutschland“ am 17. November, hätten ihm „wegen grober Verletzung staatsbürgerlicher Pflichten“ die DDR-Staatsbürgerschaft aberkannt. Welche Behörden das waren, wurde nicht gesagt. Am 13. November hatte Biermann in der ausverkauften Kölner Sporthalle ein umjubeltes Konzert gegeben, das sich „gezielt gegen die DDR und gegen den Sozialismus“ gerichtet habe.

Dabei nannte der Dissident mit Holzgitarre bei seinem Auftritt den 17. Juni „schon einen demokratischen Arbeiteraufstand und noch eine faschistische Erhebung“. Und den „republikflüchtigen“ Sohn seines Freundes Robert Havemann bezeichnete er als „Furz“. Später hat der Dreieinhalbstunden-Auftritt, dessen Mitschnitt von der ARD ausgestrahlt wurde, Biermann eher befremdet: „O diese unerträgliche Langsamkeit des Sprechens zwischen den Liedern. Ich möchte dazwischenrufen: Junge, komm aus der Hüfte!“

Wolf Biermann bei seinem Konzert am 13. November 1976 in der ausverkauften Kölner Sporthalle.
Wolf Biermann bei seinem Konzert am 13. November 1976 in der ausverkauften Kölner Sporthalle.

© picture-alliance/ dpa

Biermanns Ausweisung ist das Schlüsselereignis des Jahres 1976. Die Außenwirkung war ungleich größer als bei Brüsewitz’ Feuersuizid. Nach einer Verhaftungswelle und dem Unterzeichnen von Protestschreiben begann ein Exodus der DDR-Intellektuellen. Viele Prominente zogen in den Westen, darunter Eva-Maria und Nina Hagen, Jurek Becker, Manfred Krug, Katharina Thalbach und Thomas Brasch. Das Vertrauen in die SED war nicht bloß erschüttert. Es war zerstört.

„Der Aufenthalt des Bürgers Robert Havemann wird gemäß §§ 2 und 3 der Verordnung über Aufenthaltsbeschränkung vom 24.8.1961 auf das Grundstück 1252 Grünheide, Burgwallstraße 4, beschränkt.“ Der Bürger Havemann, Symbol der DDR-Opposition, hatte im „Spiegel“ gegen die Ausbürgerung von Biermann protestiert. Doch der Chemiker, einst gläubiger Kommunist und Stasi-Zuträger, hatte die Parteioberen schon lange gegen sich aufgebracht. Ursprünglich hatten sie ihn verhaften, verurteilen und dann in den Westen abschieben wollen. Allerdings hätte dafür das Staatsbürgerschaftsgesetz geändert werden müssen, und das Echo auf die Biermann-Ausbürgerung war schon verheerend genug.

Deshalb der Hausarrest, eine Gefangenschaft im Eigenheim auf Gartengrundstück. Das Urteil des Kreisgerichts Fürstenberg vom 26. November 1976 stand juristisch auf wackligen Beinen. Denn die zitierte „Verordnung“ fungierte als Grundlage für die Untersagung eines Aufenthalts, wie beim „Berlinverbot“ für Tramper und Oppositionelle. Die Zuweisung an einen Ort war nicht vorgesehen. Für die Staatsführung um Honecker wurde der Hausarrest zur Niederlage.

Denn Havemann wurde so endgültig zum Widerstandsmythos, er empfing Gäste, gab Interviews, sprach seine Gedanken auf Tonbandkassetten, aus denen, in den Westen geschmuggelt, das Buch „Ein deutscher Kommunist“ wurde. Bis zu seinem Tod 1982 bliebt Havemann der bestüberwachte DDR-Bürger. Er war mehr Denkmal als Denker. Krampitz glaubt, dass der „Chemiker-Philosoph“ weder als Forscher noch als Autor „irgendetwas Bleibendes“ hinterlassen hat. Bei der Stasiunterlagenbehörde stehen über 400 Aktenbände über ihn. Aber eine Havemann-Biografie wurde bis heute nicht geschrieben.

1976 war auch das Jahr, in dem der Palast der Republik als „Volkshaus“ eröffnet wurde, die DDR bei den Olympischen Spielen von Montreal als zweitbestes Land abschnitt, vor den USA und der Bundesrepublik, und die kommunistischen Parteien Europas in Ost-Berlin tagten. Doch als Grenzer an der innerdeutschen Demarkationslinie den italienischen Lkw-Fahrer Benito Corghi erschossen, ein Mitglied der KPI, kam es zu Verwerfungen mit den eurokommunistischen Genossen. Der Traum von der „sozialistischen Menschengemeinschaft“ war bloß noch eine Phrase. Von 1976 führt ein direkter Weg nach 1989. Es war das Jahr, in dem der Untergang der DDR begann.

Karsten Krampitz: 1976. Die DDR in der Krise. Verbrecher Verlag, Berlin 2016. 176 S., 18 €.

Karsten Krampitz: Der Fall Brüsewitz. Staat und Kirche in der DDR. 600 S., 29 € (erscheint am 18. August).

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