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Sag mir, was du liest, und ich sage dir, wer du bist. David Bowie um 1966, als er noch unter dem Namen Davy Jones auftrat.

© CA/Redferns

David Bowies Top-100-Bücher: Wie klug muss man sein, um Popmusik zu verstehen?

Mit „Bowies Bücher“ will John O’Connell die Welt des Musikers aus der Literatur erklären, die er gelesen hat. Worum es eigentlich geht, ist etwas anderes.

Es gibt Menschen, die stolz darauf sind, keine Bücher zu lesen. Neil Young ist einer von ihnen. Literatur würde ihn bloß von der Musik ablenken, erklärte der Rock-Hippie einmal einem Reporter des „New Yorker“. Nicht zu lesen, das wirkte wie eine Rettung: Als würde Youngs schamanistischer Gitarrenlärm durch Buchstaben unmöglich gemacht werden. Als würden Verführungskräfte von Büchern und von Klängen einander ausschließen.

Neil Young wusste, wovon er redete. Allerdings sprach er nur über Dinge, „die er selbst erlebt, empfunden oder gesehen“ hatte, fiel dem Reporter Alec Wilkinson auf. Von ersten Acid-Experimenten und Konzerten mit seiner Band Crazy Horse über Elektromobilität und alte Autos bis hin zu den Vorzügen seiner neuen Wanderstiefel. Sein unverwüstlicher Geist schien gefangen in einem Erfahrungsraum, in dem es nur seine Person gab. Das entsprach dem Diktum von Thelonius Monk, der gesagt hat: Ein Genie sei jemand, der am meisten er selbst ist.

Das ist ein in der Popkultur weitverbreitetes Ideal. Künstler seien spezialisiert darauf, hat der englische Pop-Visionär Brian Eno gesagt, „Welten für sich selbst zu erfinden und somit relevant werden zu lassen für Leute, denen man ihre Welt genommen hat“. Doch schließt das Einflüsse von außen aus? Wie wird in der Popkultur ein Bewusstsein dafür erzeugt, was wertvoll ist?

Perfektes Glück? „Lesen“

Die Frage drängt sich auf angesichts der Liste von hundert Werken, von denen David Bowie drei Jahre vor seinem Tod behauptete, sie hätten sein Leben verändert. Dass der Popstar ein außerordentlich belesener Mann war, ist kein Geheimnis. Es gibt zahlreiche Fotos, auf denen er in eine Lektüre vertieft zu sehen ist. Auf die Frage der "Vanity Fair", was seiner Vorstellung perfekten Glücks am nächsten komme, antwortete er knapp: "Lesen." Für Reisen und längere Aufenthalte ließ er sich eine mobile Bibliothek konstruieren, die 1500 Bücher fasste. Wie schwer diese Flightcases gewesen sein müssen, die Lakaien des an Flugangst leidenden Musikers in Züge und wieder hinaus wuchteten? Bildung hat Gewicht.

Unter den Büchern auf Bowies Top- 100-Liste finden sich neben Dantes „Inferno“ Romanklassiker wie „Madame Bovary“, „Der Fremde“, „Lolita“, „Der große Gatsby“ oder „Unterwegs“, aber auch Kindercomics, Jugendzeitschriften sowie kulturelle Abhandlungen, Greil Marcus’ „Mystery Train“ etwa, Nik Cohns Historie des "Goldenen Zeitalters des Rock'n'Roll" oder Peter Guralnicks Standardwerk über Soul. Interessant wird diese Auswahl erst durch jene abseitigen Bücher, die ein intellektueller Hipster wie Bowie natürlich gelesen haben musste – Colin Wilsons abgedrehte Studie über den Typus des „Outsiders“, Saul Bellows exzessiver Beatnik-Roman „Herzog“, Don DeLillos postmoderne Halluzination „Weißes Rauschen“ oder die Jahrzehnte lang unveröffentlicht gebliebene „Verschwörung der Idioten“ des tragisch gescheiterten John Kennedy Toole.

Die Kompilation, obwohl gewissenhaft erstellt, ist eine Spielerei, wie es all die ermüdend beliebigen Listen über wichtigste Rock-Riffs, vergessene Legenden der Rock-Geschichte oder Lieder für die einsame Insel sind. Bowie, der exzessive Leser, der mitunter auch rezensierte, was er verschlungen hatte, dürfte sich nicht eingebildet haben, einen Literaturführer zu hinterlassen. Der Kanon war ihm egal.

Worum geht es aber dann? Was lässt den britischen Autor John O’Connell eine äußerst kenntnisreich kommentierte Edition von Bowies Bücherliste herausbringen? Geht es um mehr als eine prominente Leseratte? Wen soll ein „Must Read“ interessieren, das dem Urheber selbst nicht mehr als ein paar spärliche Hinweise zu den Ausgaben wert war, die sich in seinem Besitz befanden? Glaubt man im Ernst, einen noch unentdeckten Zugang zu Bowies Gesamtwerk erhalten zu können, „eines der am meisten überinterpretierten und diskutierten“ der Popgeschichte („The Guardian“)? O'Connell beeilt sich, sein durchaus lesenswertes „Bowies Bücher“ aufzuladen mit der These, die aufgeführten Titel hätten das Idol „zu dem gemacht, der er war“ (380 Seiten, Kiwi, übersetzt von Tino Hanekamp, 16 €). Sag mir, was du liest, und ich sage dir, wer du bist. Das geht dann doch ein bisschen weit.

Kunst ermöglicht Kunst

Man muss über solche Überhöhungen hinwegsehen, um auf den Kern der Sache zu stoßen. So hat Bowies langjähriger Weggefährte und Produzent einiger seiner wichtigsten Alben, Brian Eno, schon früh die These vertreten, dass Kunstwerke miteinander kommunizieren. Gemeint ist damit nicht, dass ein Song wie Laura Marlings jüngst veröffentlichtes „Alexandra“ mit Leonard Cohens „Alexandra Leaving“ korrespondiert, indem es das Original feministisch umdeutet. Auch, dass die Black Eyed Peas sich gerade bei Madonnas 80er-Jahre-Hit „La Isla Bonita“ bedient haben, bewegt sich bloß im Rahmen der üblichen Einverleibung. Vielmehr geht es um einen Prozess, dessen Effekt den Künstlern oft genug verborgen bleibt. So kann er auch von Gemälden, Fotos, Filmen oder Romanen ausgehen. In Enos Fall waren es die abstrakten Bilder Piet Mondrians, die ihm so simpel vorkamen, dass er dachte: Wenn es nicht mehr als ein paar geometrische Linien und farbige Flächen braucht, um Kunst zu schaffen, kann ich das auch. Sein Werkzeug wurde der Synthesizer.

Um diesen ermutigenden Effekt von Kunst auf andere Kunst geht es auch bei Bowies Büchern. Er, der sich für jedermann erkennbar in seiner eigenen unzugänglichen Welt bewegt hatte, war nie glücklicher, als wenn er sie durch die Tür eines Buches wieder verlassen konnte. „The Music is outside / It’s happening outside“, hat er sein Bedürfnis nach Unmittelbarkeit 1996 auf dem mit Eno konzipierten „Outside“-Album umschrieben.

Geredet hat er über den Einfluss, den Bücher auf sein Denken ausgeübt haben, selten. Darin sind sich literarische Bücher und Musik sehr ähnlich: „Sich in ihre Welt fallen zu lassen, heißt, von ihnen umgeben zu sein“. So hat es Laurie Anderson, ebenfalls eine leidenschaftlich Lesende, ausgedrückt. Es gibt kein Außerhalb der eigenen Fantasie. Ebenso wenig wie es eine Wahrnehmung jenseits von Klängen gibt. Hirnphysiologisch schließen sich der musikalische und der schriftliche Sinn aus.

„Fever“? Was, bitte?

Diese Ausschließlichkeit des Klangs hat der Jugend über Generationen als Fluchtraum und Echokammer für ein Fühlen gedient, dem die Worte abhandenkamen. Seit Little Richards „Wop-bom-a- loowah, belah-bam-boom“ und dem „Yeah Yeah Yeah“ der Beatles sind Emotionen an etwas anderes als literarisch vermittelte Sprache gebunden, was elementare Auswirkungen auf die Art und Weise hat, wie Wissen in der Popkultur generiert, wichtig von unwichtig, gut von schlecht unterschieden wird.

Was sich unter Elvis’ „Fever“ oder dem „Hellfire“ verstehen ließ, von dem Jerry Lee Lewis sang, war niemandem so recht klar. Doch die richtigen Radio-DJs erklärten es einem. Die richtigen Plattenhändler ebenso. Die richtigen Leute, die sich mit Transistorradios an Kriegerdenkmälern in der Dorfmitte versammelten, gaben es einem in kargen Andeutungen zu verstehen. Der Unterschied zu klassischen Lernprozessen bestand darin, dass die Aneignung von Wissen mit seinem Ergebnis, dem Urteil, verschmolz. Eine Band zu kennen, war gleichbedeutend mit der Haltung ihr gegenüber, das Resultat des Sichkundigmachens wurde in die Analyse eingepreist.

Das bedeutete, dass dieses Wissen nicht jedem offenstand. Es war an Codes gebunden, was durchaus auf eine „Verschwörung von Idioten“ hinauslief. Wissen war allenfalls abgesichert durch Erzählungen, meistens biografische, oder eben durch die Erfolgsstory in den Charts. Frank Zappa wurde nicht müde zu bemängeln, dass der Untergang der Musikindustrie einsetzte, als sie "young hippies" einstellte, um Platten an "young people" zu verkaufen. Die alten Konzernlenker hatten zwar keine Ahnung von dem gehabt, was da an experimenteller Popmusik unter ihrem Dach aufgenommen wurde, sie meinten aber, dass der Markt es ihnen schon zeigen werde ("when it sells, allright"). Die jungen Talentscouts und Artist-Manager meinten, es vorher schon zu wissen (Zappa: "Diese jungen, hippen Burschen sind konservativer und gefährlicher für die Kunstform als es die alten Knacker mit ihren Zigarren je waren").

Identität entsteht durch Mangel

Längst hat sich der personalisierte Informationstransfer zwischen gleich Fühlenden, gleich Denkenden, das Gleiche Wollenden aus den subkulturellen Kreisen gelöst. Heute geben „Freunde“ in den sozialen Medien einander Empfehlungen, und Influencer zehren davon, ihren Lebensstil und die ihn prägenden Produkte anzupreisen. Das Gutfinden, Tollfinden, überhaupt Irgendwiefinden ist so immun geworden gegenüber äußeren Einflüssen, dass man durch die starke Segmentierung nun wieder an dem Punkt steht, an dem die polarisierte Popkultur der 60er Jahre sich befand, als es hieß: „Du machtest dein Ding und du hasstest alles andere.“

Der Satz stammt aus einem Gespräch Enos mit seiner Tochter Irial, in welchem der 72-Jährige seinem Kind zu erklären versucht, was er als Musiker und Produzentenkoryphäe macht. „Re-Valuation“ ist das Interview überschrieben – Auf-Wertung. Eno blickt betrübt in die Gegenwart seiner Tochter, die kein Bewusstsein mehr von einem Außerhalb ihrer Kultur entwickeln könne. Da ihr sämtliche Musikarchive der Welt zur Verfügung stehen, ist ihr nichts mehr fremd, keine ihrer musikalischen Erfahrungen wird in eine Erzählung und Identität übersetzt, außer der Vater hat sie gestiftet, indem er seinen Zwillingen samstags im Studio rare Do-Wop-Platten aus seiner Sammlung vorspielte.

Mag es den kulturellen Entdecker auch nicht mehr geben, so ist die „Grundsatzfrage“ an Pop, wie Kulturwissenschaftler Diedrich Diederichsen sie nennt, immer gleich geblieben: „Was ist das eigentlich für ein Typ, der das gerade spielt, wie sieht der aus, was will der?“

Außen und Innen

Eno bietet eine interessante Unterscheidung an. Für ihn sind Künstler entweder Insider oder Outsider, je nachdem ob sie sich innerhalb ihres Mediums oder außerhalb bewegen. Van Gogh wäre ein klassischer Insider - ein Erneuerer, aber gebunden an die Werkzeuge der Malerei. Warhol dagegen verkörpert den Typus des Outsiders, der Künste in Beziehung setzt, die vorher wenig miteinander zu tun haben.

Diese Typologie bleibt über die digitale Revolution hinaus gültig. Obwohl die Postmoderne den Outsider nun erstmals bevorteilt, stellt ein Insider wie Neil Young mit seiner hermetischen Fokussierung auf das Rock-Instrumentarium eine nicht weniger schlüssige Reaktion dar.

Gangsta-Rap. Als Drogendealer kapierten, dass sie mit Geschichten über Drogendealer und Beleidigungen der Konkurrenten reicher würden als vorher, wurden sie Rapper. Donald Trump war schon reich und wurde sogar US-Präsident.
Gangsta-Rap. Als Drogendealer kapierten, dass sie mit Geschichten über Drogendealer und Beleidigungen der Konkurrenten reicher würden als vorher, wurden sie Rapper. Donald Trump war schon reich und wurde sogar US-Präsident.

© Getty Images/AFP

Überhaupt hatten sektiererische Potenziale in der Popkultur stets ihren Platz. In ihnen sind die populistischen Strategien angelegt, die autoritären Charakteren wie Donald Trump - auch er ein Nichtleser - erlauben, Information und Verurteilung ineinanderfließen zu lassen und mit dem Jargon der (benachteiligten) Gosse zu rechtfertigen. Sein hysterischer Politikstil ist vorbereitet worden vom aggressiven Gangsta-Rap der neunziger Jahre, der es hoffähig gemacht hat, Gegner verbal niederzumähen und das für einen Akt des Widerstands auszugeben. In einer tragischen Verkennung ihrer Rolle wollen die Aggro-Rapper denn auch nicht verstehen, dass ihre Wortgefechte und ihr dümmliches Streben nach Statussymbolen am Ende bloß darauf hinauslaufen, sie genauso unfrei zu lassen, wie sie waren.

Allerdings gibt es eine Haltelinie vor der populistischen Demagogie. Das ist der verspielte Charakter von Pop-Erfahrungen: Man mag sich nach bestimmten Mustern kleiden, die Gesten und Vokabeln eines Genres beherrschen und dessen Feindbilder kultivieren, dennoch könnte man jederzeit auch anders, wenn man wollte. Ob populäre Musik links ist oder rechts, moralisch oder verdorben, klug oder ungebildet, hat keine Bedeutung. Es zählt, wie viele Anknüpfungspunkte sich bieten. Und wenn es hundert Bücher sind.

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