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Es ist ein Glück und Lesevergnügen, den Abenteuern von Vic und Mad und Baz und Coco und Zuz zu folgen und wie sie versuchen, ihr Leben zu meistern.

© Arena

David Arnolds zweiter Roman: Helden des Hungers

Wie fünf Außenseiter das Leben zu meistern versuchen: David Arnolds Roman „Herzdenker“.

Nein, leicht will es David Arnold seinen jungen Lesern und Leserinnen nicht machen. Erst einmal heißt es bei ihm, sich zu orientieren. Sein Roman „Herzdenker“ beginnt mit einem recht üppigen Figurenverzeichnis, setzt sich in einem Vernehmungsraum fort und blendet dann in eine acht Tage zurückliegende Vergangenheit zurück, in welcher die Binnengeschichte von „Herzdenker“ ihren Anfang nimmt. Da steht also der 16 Jahre alte Bruno Victor Benucci III an einer seiner Lieblingsstellen in Hackensack, New Jersey, 25 Kilometer von New York City entfernt, am gleichnamigen, sich durch sein Heimatstädtchen schlängelnden Fluss. Vic, wie er kurz genannt wird, hört ein Opernduett, beobachtet ein ausrangiertes U-Boot, denkt an seinen kürzlich an einem Pankreaskarzinom verstorbenen Vater, um sich schließlich auf den Weg zu Babushka’s Feinkostgeschäft zu machen, Prosciutto zu besorgen und zu schlussfolgern: „Gott, Dad fehlte mir so sehr.“

Nun hat es Arnold nicht genügt, einen plötzlich vaterlosen Jungen zum Helden seines Romans zu machen. Vic leidet auch noch, wie so viele Helden in der jüngeren Kinder- und Jugendbuchliteratur (man denke nur an die Romane eines John Green) an einer seltenen, ihn aber merklich einschränkenden Erkrankung: dem Möbius-Syndrom, das den sechsten und siebten Hirnnerv betrifft und vor allem eine beidseitige Gesichtsmuskellähmung zur Folge hat. Viktor kann nicht lächeln, nicht blinzeln, nicht die Augen schließen, nicht die Stirn runzeln. Was die Polizistin, die ihn vernimmt, zu der mitfühlenden Bemerkung veranlasst: „Du hast es sicher nicht leicht im Leben.“

Das aber haben fast alle Figuren dieses Romans nicht. Nicht die Mutter von Victor, nicht sein Stiefvater in spe, vor allem aber nicht die sogenannten Helden des Hungers, denen Victor sich anschließt, als er hört, dass seine Mutter wieder heiraten will:  die 17 Jahre alte Madeline, deren Eltern bei einem Autounfall gestorben sind, die elf Jahre alte Coco, die sich vor ihrem sie schlagenden Vater versteckt hat, der 27 Jahre alte Baz, der aus der Republik Kongo geflüchtet ist und eigentlich Mbemba Bahizire Kabongo heißt sowie sein kleinerer, 20 Jahre alter Bruder Nzuzi, kurz Zuz, der nach der Ermordung seiner Schwester und seiner Mutter bevorzugt schweigt. Sie alle sind schwer traumatisiert, haben schon früh den Unbill des Lebens ertragen müssen und sich gerade dadurch zusammengefunden.

Kitschorgie gekonnt vermieden

Natürlich kann so ein Figurenensemble einen Autor dazu verleiten, eine wahre Kitschorgie zu veranstalten, auf dass aus „Herzdenker“ ein allzu warmes Herzschmerzbad werde. David Arnold gelingt es aber, all das in seinem zweiten Roman weitgehend zu vermeiden: durch eine gewisse Lässigkeit und Ungezwungenheit von Vic und Mad, die im Wechsel erzählen, sich überdies ineinander verlieben. Und durch immer wieder neue Einfälle, zum einen hinsichtlich des Settings, zum anderen in den zwei den Roman schön zusammenhaltenden Geschichten.

In der einen versucht Victor mit den neuen Freunden, die fünf Aufgaben, die der Vater Vics Mutter in einem letzten Brief an sie aufgetragen hat, zu lösen und zu erfüllen, von „Häng mich von der Guten Stube“ bis zu „Wirf mich von unserem Fels in der Häuserbrandung“. (Vic findet diesen Brief in der Urne mit der Asche seines Dads.)

Die andere Geschichte erzählt nach und nach, warum Vic und Madeline zu Anfang jedes Kapitels verhört werden, was mit Mads Herkunft und einem dramatischen Ereignis in ihrem Elternhaus zu tun hat.

Ja, wie man vielleicht merkt, ist es gar nicht so leicht, diesen mitunter überbordenden Roman bündig zusammenzufassen. Zumal Arnold immer wieder schöne Bilder findet für die Gemütsverfassungen seiner Helden, wie man das zum Beispiel macht, mit dem Herzen zu denken, und er zahlreiche Leitmotive durch den Roman ziehen lässt: von den Bildern des großen Malers und Fauvisten Henri Matisse (von dem Vic ein Fan ist) über Elliott Smiths Song „Coming Up Roses“ (den Madeline über alles liebt) bis hin zu S. E. Hintons Roman „Outsider“ aus dem Jahr 1967 über die „Greasers“ und die „Socs“ (ansatzweise die Vorlage für „Herzdenker“).

Klar, hie und da tropft es aus diesem Roman, da gibt es eine Idee mehr Herzschmerz als Herzgedanken, da nervt so manche von Arnold gezielt eingesetzte Redundanz. Und doch ist es im Großen und Ganzen ein Glück und Lesevergnügen, den Abenteuern von Vic und Mad und Baz und Coco und Zuz zu folgen und wie sie versuchen, ihr Leben zu meistern.

David Arnold: Herzdenker. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrich Thiele. Arena Verlag, Würzburg 2018. 376 Seiten, 17 €. Ab zwölf Jahren.

Weitere Rezensionen finden Sie auf unserer Themenseite.

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